1.1 Definition und Häufigkeit
Cerebralparese
- Cerebral = im Gehirn, parese = Lähmung
- vor oder während Geburt entstandene Gehirnstörung, die den
Bewegungsapparat und die Sensomotorik negativ beeinflusst
- Eine Cerebralparese ist eine bleibende sensomotorische Störung
in Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung. (frühkindlich
= zwischen dem Beginn der Schwangerschaft und dem Ende des 2. Lebensjahrs
entstanden; Hirnschädigung = irreparabler, konstanter Defekt)
Häufigkeit
- 1 - 3 Betroffene pro 1000 Lebendgeburten
1.2 Ursachen
- nicht immer erkennbar
- Möglichkeiten: Noxenkette, Hypoxie, prä- oder postnatale Infektion
1.3 Formen der Cerebralparesen
- Klassifikation der Cerebralparesen: spastische Parese, Athetose und
Ataxie
- Information für die Bewegung der rechten Extremitäten liegt
in der linken Gehirnhälfte
- Je stärker die spastische Lähmung, um so stärker ist
auch die geistige Beeinträchtigung
- Spastiker werden normalerweise in KB-Schulen unterrichtet, aber wenn
nur eine geringe geistige Beeinträchtigung vorliegt, erfolgt eine Integration
in die Regelschule oder eine LB-Schule
1.3.1 Die spastische Parese
Definition
Spastische Parese: taschenmesserartige Tonuserhöhung der Muskeln infolge
einer Läsion pyramidenbahnnaher Nervenbahnen
1.3.1.1 Die spastische Diplegie
Erklärung
- Muskeln (Adduktoren) ziehen den Oberschenkel zur Mittellinie
- Abspreizhemmung durch erhöhten Muskeltonus der Adduktoren (Adduktorenspasmus)
- Arme nur leicht betroffen, Beine schwerer, kaum Seitendifferenzen
Fortbewegung
- Laufen aus dem Becken heraus
- Vorschleudern der Beine
- erschwerte Rotation der WS
- Sprünge können nicht durch Muskeln abgefangen werden, so dass
alle Last auf den Knochen liegt
- schlechte Balance, daher Ausgleichbewegungen der Arme
- Ausweichbewegungen (z.B. nach einem Stoß) sind nicht möglich
- Pubertät stellt großes Problem, da Gewichtszunahme zu verzeichnen
ist, das bedeutet schlechteres Laufen
- Laufen im Scherenmuster
Stand
- Spitzfuß
- durch Achillessehnenverkürzung Kontraktion der Unterschenkelmuskeln,
- wird ab gewissem Alter aufgrund des Gewichtes, das auf ihm lastet
zu einem Senk-Spreizfuß (stabileres Stehen, aber "schlurfender"
Gang, weil Fuß nicht abgerollt werden kann)
- gebeugtes Becken
- gebeugte Knie und Hüfte
- Adduktion und Innenrotation (Knie reiben aneinander)
- Hohlkreuz (Kompensatorische LWS-Lordose)
- Gleichgewichtsstörung
Sitzen
- Langsitz
- Übermäßige Rumpfkyphose
- gebeugte Beine
- nach-hinten kippen
- Häschensitz"
- sitzen zwischen den Versen
- hoppelnde Fortbewegung
- Hilfen, um Spasmus im Sitzen zu verhindern: Arm- und Rückenlehnen,
Fußstützen und Keil
Obere Extremitäten
- ebenfalls betroffen
- Greifen ist möglich, aber erschwert
Intelligenz
- trotz "normaler" Begabung kann Leistungspensum der Grundschule
meistens nicht geleistet werden
- KB-Schulen oder Integration in Regelschule (aber verstärkte Zuwendung
ist notwendig)
Teilleistungsschwächen
- Feinmotorische Störungen
- im Alter von 10-12 Jahren reift Feinmotorik
- Wahrnehmungsschwächen
- Sprachstörungen
- auditive Störungen
Wuchs
- cerebral paretische Kinder sind kleiner als gesunde Kinder
- Kinder, die nicht laufen können sind noch kleiner
Verschiedenes
- es besteht eine Imbalance der Muskelbeuger und ?strecker
- Merksatz: Die Haltung kommt vor der Kontraktur
- die Immobilität der Extremitäten führt zur Kontraktur
- es entstehen assoziierende Mitreaktionen (krankhafte Mitbewegungen der
Hände und des Mundes)
- Blindheit und mentale Behinderung als Begleitbehinderungen wirken sich
potenzierend auf die Gesamtbehinderung aus >>> keine Fortbewegung
>>>Schwerstbehinderung
1.3.1.2 Die spastische Tetraplegie
Erklärung
- Arme und Beine betroffen, deutliche Seitendifferenzen
- die Tetraplegie ist eine beidseitige Hemiplegie, doch es besteht ein
deutlicher qualitativer Unterschied
Fortbewegung
- bei 80 - 90 % der Pat. ist Laufen nicht möglich
- robbend (spreizen der Beine nicht möglich)
- Fortbewegung im Rollstuhl durch Mitbeteiligung der Arme erschwert
- Hypertonie und Bewegungsarmut
Untere Extremitäten
Obere Extremitäten
- stereotype Haltung in Henkelstellung
- Hände locker und gefaustet
- Scherengriff
Rumpf
- Rumpf ist steif >> Torsion des Rumpfes nur en bloc möglich
- schwacher Haltungstonus im Rumpf >> auch Kopfkontrolle erschwert
Reflexe
- tonischer Labyrinthreflex: Impulse aus dem Labyrinth (Innenohr) bestimmen
folgende Bewegungsmuster:
- Rückenlage: Kopf im Nacken, Arme in Henkelstellung, Beine gestreckt
- Bauchlage: Schulterretaktion (Schultergürtel und Arme hinten),
Kopf in Mittellinie, Beine angezogen
- bei Fall nach vorne ist kein Abstützen möglich
Sprache
- bei kontinuierlich erhöhtem Tonus zeigen sich:
- Mimikarmut
- eintönige, einsilbige Sprache
- keine differenzierte Zungenmotorik
mentale Fähigkeiten
- großer Teil der Pat. ist GB und/ oder kleinköpfig
- in Abhängigkeit vom Grad der GB wird die Motorik negativ beeinflusst
- stärkere Einschränkung der geistigen Entwicklung
Feinmotorik
- abhängig von mentalen Fähigkeiten und dem Willen
Begleitende Behinderungen
- Hörschwäche
- Sehschwäche
- Epilepsie (bei 30 %)
1.3.1.3 Die spastische Hemiplegie
Definition
Hemiplegie = Halbseitenlähmung
Erklärung
- halbseitige Lähmung, diskrete neurologische Störungen auch
auf der gesunden Seite nachweisbar
- betroffene Seite neigt zu Verkrampfung
- Achsenabweichung des gesunden Beins (X-Bein-Stellung)
- Diagnose wird schon im Alter von 4 - 5 Monaten gestellt, dann folgt
die Therapie
Klassifikation
- Hemiplegie mit gestörter Körperschemastörung (wegen unzureichender
Repräsentanz der betroffenen Körperhälfte wird diese nicht
wahrgenommen)
- herabgesetzte Wahrnehmung
- herabgesetztes Schmerzempfinden
- sensorische Defizite
- keine Integration der behinderten Hälfte ins Körperschema
- größtenteils GB
- über 50 % der Pat. sind Epileptiker
- Ursache: Hirnblutung
- Hemiplegie mit vollständigem Körperschema
- gutes Sprechen
- häufig integriert in Regelschule
- kein Anfallsleiden
- Ursache: Gefäßverschluss (durch Embolie oder Thrombose)
in der Schwangerschaft
Untere Extremitäten
- wie bei Diplegie
- gelähmtes Bein ist im gestreckten Zustand 5 bis 6 cm kürzer
als das gesunde (Hypoplasie), Spitzfuß kann nicht genug ausgleichen
- Schrittlänge auf betroffener Seite verkürzt
- Schiene zum Ausgleich des Spitzfußes (hält Fuß im 90°
Winkel) und Schuhausgleich nötig
Obere Extremitäten
- Arm in Henkelstellung
- Hand gefaustet und nach außen und innen gerichtet
- Hypoplasie
- betroffener Arm in steifer Beuge- oder Streckhaltung
Fortbewegung
- Rumpf wird gebeugt (wie Tritt in Kuhle)
Hypoplasie
- erstreckt sich über die gesamte Körperhälfte
- verminderte nervale Struktur (wenig Impulse werden vom Gehirn abgegeben)
>> schlechte Blutversorgung
- verminderte Nutzung
- bleibt das ganze Leben über bestehen
1.3.2 Die Athetose (Dyskinesie)
Erklärung
- meistens der ganze Körper betroffen, deutliche Seitendifferenzen
- Schwankender Muskeltonus, der von der Erregungslage des Pat. abhängig
ist
- Hyperkinese
- Fehlen der Co-Kontraktion: Kopf und Rumpf können kaum ruhig gehalten
werden; Schultern und Becken erhalten nicht genug Stabilität
- in Ruhe: Hypotonus
- in Aktivität: starke Schwankungen zwischen Hypotonus und Hypertonus
- Gangbild: schlechte Balance > Ausgleichbewegungen der Arme notwendig;
kleine Schritte mit gestreckten Beinen
- kaum Möglichkeiten zu Mimik und Artikulation
- häufig in Kombination mit spastischen oder choreiformen Bewegungsmustern
- Schwerstbehinderung, die dem Pat. meist nur die Rückenlage zulässt
- Überschießende Bewegungen
- normale geistige Entwicklung möglich
- Diskrepanz zwischen mimischer Ausdrucksweise und Intelligenz
- Sprechen oft nicht möglich
- häufig ist TLR vorhanden
- im Säuglingsalter noch keine Athetose, sondern schlaffe, hypotone
Körperhaltung: Sondenernährung, Froschhaltung der Beine
- dystonische Attacken (plötzlich auftretende überhöhte
Anspannungen) > Verletzungsgefahr
- gezielteste Bewegungen meistens mit Fuß oder Stirn möglich
Kennzeichen
Asymmetrie der Bewegungen (in jeder Körperregion)
- wird maßgeblich durch ATNR (Asymmetrisch Tonischer Nacken Reflex)
hervorgerufen
- Verhinderung der Mittellinienorientierung (Pat. muss wegsehen, um in
Mitte greifen zu können)
Ess- und Schluckstörungen
- Kehlkopfdeckel muss funktionieren, da Neugeborene abwechselnd atmen
(durch die Nase) und schlucken
- bei cerebral gestörten Kindern funktioniert er nicht, so dass sie
nicht richtig trinken können und bis zu einem Alter von 4 bis 5 Monaten
per Sonde gefüttert werden müssen
1.3.3 Die Ataxie
- a = weg von, taxis = Ziel
- Bewegungsstörung mit vorrangiger Gleichgewichtsstörung
- schwere geistige Behinderung
- Epilepsie
- Muskelerschlaffung
- meistens in Form einer Tetraplegie
- wenig gesteuerte, eckige und fahrige Bewegungen infolge Mangel an koordinierter
Muskelaktivität
- kaum Zielsicherheit, Abstufung und Dosierung
- Rumpfataxie: Stand ist wackelig und instabil und Gang ist torkelig
- Extremitätenataxie: Intentionstremor, Dysdiadochokinese, Dysmetrie
und Rebound-Phänomen
1.3.4 Die Hypotonie
- meistens nur als Begleiterscheinung
1.4 Unzureichend gehemmte Reflexe
1.4.1 Tonischer Labyrinth-Reflex (TLR)
Änderung von Kopf- und Körperhaltung
- in Bauchlage: tonische Beugung von Rumpf und Extremitäten
- in Rückenlage: Streckung von Rumpf und Extremitäten
1.4.2 Asymmetrisch tonischer Nacken-Reflex (ATNR)
bei Neigung des Kopfes zur Seite
- Arm auf der Gesichtsseite: Streckung und Tonuserhöhung
- Arm auf der Hinterkopfseite: Beugung und Tonusverminderung
1.4.3 Symmetrisch tonischer Nackenreflex (STNR)
bei Neigung des Kopfes nach hinten
- obere Extremitäten: Streckung und Tonuserhöhung
- untere Extremitäten: Beugung und Tonusverminderung
bei Neigung des Kopfes nach vorne
- obere Extremitäten: Beugung und Tonusverminderung
- untere Extremitäten: Streckung und Tonuserhöhung
1.4.4 Überschießende Stützreaktionen der
Beine
- bei Berührung der Füße einer Unterlage: steife tonische
Beinhaltung mit Spitzfuß und Adduktion sowie Innenrotation in den
Hüften
1.5 Prognose
Lebenserwartung
- abhängig vom Schweregrad der Cerebralparese
Entwicklungsprognose
- um so schwerer zu stellen, je jünger das Kind ist
- langfristig erreichbare Ziele können anhand der Verlaufsbeobachtung
bei gleichzeitiger Förderung abgeschätzt werden
- es gibt hirnorganisch bedingte Grenzen
- Tempo der Bewegungsentwicklung lässt Schlüsse auf Prognose
zu
- Abhängigkeit von der Form der Cerebralparese:
Spastische Di- oder Hemiplegie |
Spastische Tetraplegie |
Athetose |
Ataxie |
|
erlernen das Laufen |
prognostisch schlechter |
erlernen das Laufen |
verlangsamte statomotorische Entwicklung, aber gutes Spätergebnis |
|
erreichen mehr oder weniger hohes Maß an Unabhängigkeit |
auch die Intelligenz ist eingeschränkt |
können viele Probleme durch gute intellektuelle Fähigkeiten
ausgleichen |
|
|
Eingliederungsprognose
- Einstellung zur eigenen Behinderung und zu Mitmenschen ist bedeutsamer
als geistige und körperliche Fähigkeiten