Sonderpädagogisches Gutachten 2
Gutachten
zur Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs (gem. § 11 Abs. 1 VO-SF)
Name: Adresse: Geburtsdatum: Staatsangehörigkeit: Erziehungsberechtigte: Derzeitiger Förderort: Gutachter: |
Marga Mustermann (Name geändert) Musterstraße 1, 11111 Musterstadt xx.xx.1995 deutsch Maria und MaximilianMustermann Heilpädagogischer Kindergarten Maike Brumberg (Lehrerin für
Sonderpädagogik) und |
1. Anlass und Fragestellung
Marga Mustermann, geboren am xx.xx.1995, besucht zur Zeit den Heilpädagogischen Kindergarten Musterstadt und wird zum Schuljahr xxxx/xx schulpflichtig. Herr und Frau Mustermann stellten am 28. März den Antrag auf Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs beim Schulamt des Musterkreises. Sie sind der Meinung, dass Marga in einer Schule für Geistigbehinderte am besten gefördert werden kann.
2. Verfahrensablauf
20. März Schulärztliches Gutachten
28. März Antrag auf Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs
02. April Beauftragung der Gutachter
10. Mai Gespräch mit den Erziehungsberechtigten
14. Mai Verhaltensbeobachtung im Kindergarten und anschließend Gespräch mit der Gruppenleiterin und der Leiterin des Kindergartens
15. Mai Ausfüllen des HKI durch die Erzieher im Kindergarten
17. Mai Ausfüllen des HKI durch die Eltern
18. Mai Verhaltensbeobachtung in der Schule
3. Anamnese
Marga wurde am xx.xx.1995 als erstes Kind der Familie Mustermann geboren. Sie hat 3 jüngere Geschwister, Anna (geb. 1996), Manuel (geb. 1998) und Hans (geb. 2001).
Nach Angaben der Mutter verlief die Schwangerschaft normal, bis Marga in der 23. Schwangerschaftswoche deutlich zu früh im Krankenhaus zur Welt kam. Sie verbrachte die ersten 5 Lebensmonate in der Kinderklinik, davon 3 Monate im Inkubator unter intensivmedizinischer Betreuung.
Es wurde eine starke Unterentwicklung der Lunge festgestellt, aus der sich eine auch noch heute bestehende Empfindlichkeit für Erkältungen und Pneumonien ableitet. Marga atmet röchelnd und muss daher 2 mal täglich inhalieren.
Die Eltern gaben an, dass Marga ein deutlich herabgesetztes Schmerzempfinden hat.
Laut schulärztlichem Gutachten weist Marga ein Anfallsleiden und allgemeine Entwicklungsverzögerungen vom Ausmaß einer geistigen Behinderung auf. Gegen die Epilepsie nimmt sie zweimal täglich je ¼ Tablette Frisium® und ½ Tablette Ospolot®. Im Kindergarten hatte Marga einen "kleinen Anfall" in Form von einer Körperzuckung mit kurzem Bewusstseinsverlust, zu Hause nach Aussage der Eltern dagegen noch nie. Ein Versuch, die stark dosierten Medikamente, die als Nebenwirkung auch Halluzinationen auslösen, zu reduzieren wurde Anfang Mai im Krankenhaus Musterstadt durchgeführt. Diese Umstellung war jedoch nicht möglich, so dass die Medikation weiter bestehen bleibt.
Die visuelle und auditive Wahrnehmung wurde ärztlich untersucht und ist organisch ohne Befund. Im Alter von 3 Monaten wurde eine sogenannte "Kälteschocktherapie" durchgeführt, die einer möglichen Netzhautablösung (typische Komplikation bei einer langen Verweildauer im Inkubator) vorbeugen soll.
Marga hatte noch keine Kinderkrankheiten, ist aber nach Aussage der Mutter „normal“ nach dem derzeitigen Impfstandard geimpft.
Insgesamt fällt auf, dass Marga ein sehr kleines und zierliches Kind mit einem deutlich verkleinerten Kopfumfang ist. Sie befindet sich ständig in Bewegung.
Mit der Vollendung des ersten Lebensjahres setzte die Frühförderung ein. Seit dem 3. Lebensjahr besucht Marga den Heilpädagogischen Kindergarten in Musterstadt. Seit diesem Zeitpunkt erhält sie keine Frühförderung mehr. Gleichzeitig mit dem Kindergartenbesuch setzte die krankengymnastische Behandlung ein.
4. Darstellung der Untersuchungsergebnisse
4.1 Selbstversorgung und Selbständigkeit
Zu diesem Bereich konnte die Gruppenleiterin genaue Angaben machen, die die Beobachtungen, die wir im Kindergarten und in der Schule machten, bestätigen.
Marga ist nicht in der Lage, sich selbständig an- und auszukleiden. Sie schafft es größtenteils schon, sich die Jacke oder einen Pullover auszuziehen, benötigt aber bei Verschlüssen (Reißverschluss hochziehen, ein-/ aushaken, Knöpfe öffnen/ schließen) Hilfe.
Die Mahlzeiten kann Marga selbständig zu sich nehmen. Fleisch muss vorgeschnitten werden, wobei darauf geachtet werden muss, dass sie langsam isst und ausreichend kaut. Mit einem Tellerrand ist es ihr möglich, mit einem Löffel oder einer Gabel (diese wird noch wie ein Löffel benutzt), das Essen alleine zum Mund zu führen. Sie trinkt sehr viel und benutzt hierzu ein Glas oder eine Tasse. Auch das Trinken durch einen Strohhalm bereitet ihr keine Probleme.
Ein Toilettentraining wird im Kindergarten durchgeführt. Marga wird zu bestimmten Zeiten zur Toilette gebracht, bleibt aber aufgrund ihres gesteigerten Bewegungsdrangs nur maximal 2 Minuten sitzen. Lässt man sie alleine auf der Toilette, steht sie sofort wieder auf. Bisher konnte kein Erfolg des Toilettentrainings erzielt werden, so dass Marga weiterhin Windeln trägt. Marga kann sich unter Anleitung selbständig die Hände mit Seife waschen und abtrocknen. Bei der Zahnpflege benötigt sie Handführung.
4.2 Wahrnehmung
Marga ist ständig in Bewegung, was ihre Wahrnehmung deutlich beeinflusst.
Im Bereich der visuellen Wahrnehmung fällt auf, dass sie Dinge und Personen nur sehr kurz fixiert. Ihr Blick schweift dann sehr schnell ab und ist häufig nach oben gerichtet. Dieses wird auch bei einem Steckspiel deutlich, das im Kindergarten durchgeführt wurde. Marga klopft mit der Form auf dem Kasten herum und trifft die Öffnung manchmal zufällig. Sie schaut immer nur nach Aufforderung für wenige Augenblicke auf den Kasten. Eine Farbunterscheidung konnte nicht festgestellt werden, ebenso wenig wie eine Formenerfassung.
Die akustische Wahrnehmung ist nach Aussage der Gruppenleiterin im Kindergarten gut ausgeprägt. Dieses konnte auch in der Beobachtungssituation in der Schule bestätigt werden. Marga kann die Richtung, aus der man ihren Namen ruft, eindeutig zuordnen und dreht sich sofort um. Außerdem ist sie an Musik sehr interessiert. So ahmt sie immer wieder die Gesten der Lieder "Ach, wie bin ich müde" und "Meine Augen sind verschwunden" nach und fordert somit dazu auf, das Lied für sie zu singen. Kommt man diesem Wunsch nach, so begleitet sie das Lied mit Hilfe mit den entsprechenden Körper-Gesten.
Im Bereich der vestibulären Wahrnehmung fiel in der Gesprächssituation im Elternhaus eine langandauernde Form der Stereotypie ins Auge. Marga drehte sich im Sitzen auf dem Fußboden immer im Kreis. Dieses tat sie mehrmals über einen Zeitraum von mindestens 10 Minuten. Es schien so, als führe sich Marga auf dieses Art und Weise vestibuläre Reize zu. Im Kindergarten tritt dieses Verhalten nach Aussage der Erzieherin jedoch kaum auf. In der Beobachtungssituation in der Schule schaukelte Marga sehr gerne. Sie genoss es, angeschubst zu werden und schloss dabei die Augen.
Die propriozeptive Wahrnehmung ist ein wichtiger Bereich im Kindergarten. In Einzelfördersituationen wird Marga in eine Decke eingedreht, was sie als sehr schön empfindet. Die Decke wird ganz fest um ihren Körper gelegt, damit sie sich selbst besser spüren kann. In der Gruppensituation spielt Marga sehr gerne ein Zuordnungsspiel, bei dem sie Körperteile, die auf Karten abgebildet sind, zeigen soll. In der Beobachtung zeigte sie die Augen, die Haare und die Hände, mit den Beinen und den Armen hatte sie dagegen Schwierigkeiten. In der Schule besuchte Marga das Bällchenbad, das ihr sehr gut gefiel. Sie kennt es aus dem Kindergarten und sprang gleich ohne Angst und lachend hinein.
4.3 Motorik
Margas grobmotorisches Bewegungsverhalten lässt sich als flink und ausdauernd beschreiben. Wie bereits erwähnt, ist Marga ständig in Bewegung. Sie geht in einem ausgeprägtem Zehenspitzengang, was nach Aussage der Erzieherin nicht durch eine Sehnenverkürzung im Fersenbereich, sondern entwicklungsbedingt ist. Sie trägt Einlagen in den Schuhen.
Die Treppe geht sie wechselschrittig hoch und zeitweise auch herunter, hierbei benutzt sie das Geländer oder die Hand eines Erwachsenen als Hilfestellung.
Trotz des Zehenspitzengangs ist ihre Fortbewegung sicher.
Im feinmotorischen Bereich liegt Margas Interesse eher auf basaler Ebene. Der Umgang mit Knetbällen, Erbsenkissen, Wasser etc. bereitet ihr Spaß. Sie arbeitet beidhändig und lässt keine Rechts- oder Linksdominanz erkennen. In der Schule war ihr das Auspacken eines Schokoriegels nicht möglich. Sie drehte den Riegel in den Händen, richtete den Blick nicht darauf und gab den Riegel dann ab, damit er ihr ausgepackt wurde.
4.4 Kognition
Marga kann sich innerhalb des Kindergartens grob orientieren und findet verschiedene Räume. In der Schule war sie in der Lage, den Klassenraum, in dem sie am Unterricht teilnahm, nach der Pause wieder zu finden. Innerhalb des Gruppenraums im Kindergarten weiß sie ebenfalls, wo ihre Lieblingsmaterialien stehen.
Einfache zeitliche Reihenfolgen kann sie verstehen (z.B. "Erst musst Du die Tür zu machen, dann kannst Du schaukeln").
Ihre Konzentrationsspanne beschränkt sich auf wenige Minuten, kann aber etwas verlängert werden, wenn sie in ihrem Stuhl per Bauchgurt fixiert wird und somit zur Ruhe kommt.
4.5 Sprache
Marga zeigt keine aktive Sprache, ist aber in der Lage mitzuteilen, was sie möchte und wie sie sich fühlt. Hierzu verzieht sie das Gesicht, lächelt oder zeigt zum Beispiel auf Gegenstände, die sie haben möchte. Um eine Person auf sie aufmerksam zu machen, nimmt sie diese bei der Hand oder setzt sich auf deren Schoß.
Ihr passiver Wortschatz ist nach Aussage der Eltern und Erzieher gut. Vor allem sich wiederholende Alltagstätigkeiten betreffende Aufforderungen oder auch Rufe wie "Halt!" befolgt sie verlässlich.
Margas Stimme kann als röchelnd beschrieben werden, was sich auf ihre Lungenunterfunktion zurückführen lässt. Manchmal artikuliert sie Lautverbindungen wie "Mamamama".
Ihr bekannte Lieder begleitet sie mit den entsprechenden Gesten an den richtigen Stellen. Musik und Singen gefällt ihr sehr gut.
4.6 Sozialverhalten
Marga macht einen fröhlichen und freundlichen Eindruck. Die Aussage der Erzieher, dass Marga nur dann fröhlich ist, wenn man sich mit ihr beschäftigt und ansonsten eine eher traurige Grundstimmung hat, konnte in unseren Beobachtungen nicht festgestellt werden. Marga trat uns immer fröhlich und offen entgegen. In der Schule machte sie keinen Unterschied zwischen ihr bekannten und ihr unbekannten Personen. Die Schüler der Klasse, in der sie am Unterricht teilnahm, ließ sie jedoch weitestgehend außer Acht.
Nach Angaben der Gruppenleiterin geht Marga im Kindergarten vereinzelt auch auf andere Kinder zu und nimmt Kontakt auf, indem sie auf deren Arm klopft oder sie in den Arm nimmt. Sie unterscheidet außerdem schwächere und stärkere Kinder und schubst dem entsprechend eher schwächere Kinder, wenn sie wütend ist. Unzufriedenheit äußert Marga häufig durch aggressives Verhalten. Sie kneift und beißt in diesen Situationen.
Die Eltern berichten, dass Marga zeitweise bei den Großeltern verbleibt und mit dieser Situation gut zurecht kommt.
Marga ist in der Lage, Affekte wie Freude, Trauer und Wut deutlich zum Ausdruck zu bringen.
4.7 Ergebnisse des Heidelberger-Kompetenz-Inventars (HKI) für Geistigbehinderte
In der Zeit vom 15. bis zum 20. Mai wurde das HKI sowohl von den Eltern als auch von den Erziehern im Kindergarten ausgefüllt.
Es ergibt sich ein in allen Teilbereichen unterdurchschnittliches Ergebnis. Obwohl die Eltern und Erzieher teilweise unterschiedliche Einschätzungen vornahmen, erhält man in beiden Auswertungen einen Prozentrang bis 10. Einschränkend muss jedoch festgestellt werden, dass das HKI erst für Kinder ab dem 7. Lebensjahr vorgesehen ist und die Ergebnisse somit relativiert werden müssen.
Marga erreichte im Einzelnen folgende Prozentrangwerte:
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Erzieher |
Eltern |
1.0 Praktische Kompetenz: 1.1 Nahrungsaufnahme/ Kleidung
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PR bis 25 PR
bis 25
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PR bis 10 PR
bis 10
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2.0 Kognitive Kompetenz: 2.1 Verkehr und Aktionsradius
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PR bis 10 PR
bis 25
|
PR bis 10 PR
bis 10
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3.0 Soziale Kompetenz: 3.1
Lern- und Arbeitsverhalten
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PR bis 10 PR
bis 10
|
PR bis 10 PR
bis 25
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Gesamtkompetenz: |
PR bis 10 |
PR bis 10 |
5. Sonderpädagogische Förderschwerpunkte
Förderschwerpunkte ergeben sich insbesondere in den folgenden Bereichen:
Selbstversorgung und Selbständigkeit
Wahrnehmung
Motorik
Kognition
Sprache
Sozialverhalten
6. Ergebnisresümee
Die im Verlauf des VO-SF ermittelten Ergebnisse weisen übereinstimmend darauf hin, dass bei Marga eine Entwicklungsretardierung vorliegt, die alle Persönlichkeits- und Lernbereiche betrifft. Die beschriebene Lernausgangslage erfordert eine sonderpädagogische Förderung mit spezifischen Entwicklungs- und Strukturierungshilfen für eine aktive Lebensbewältigung. Aus diesem Grund empfehlen wir die Einschulung in die Schule für Geistigbehinderte (Sonderschule).
Im Bereich der vitalen Versorgung ist Marga pflegebedürftig. Sie muss gewickelt bzw. zur Toilette gebracht werden und bedarf Hilfe beim An- und Auskleiden sowie der Körperpflege. Auch bei den Mahlzeiten benötigt sie umfangreiche Unterstützung. Für Ortswechsel ist eine Person nötig, die Marga an der Hand führt.
Aufgrund ihrer erheblichen geistigen Behinderung und der Pflege- und Aufsichtsbedürftigkeit ist Marga Mustermann in die Gruppe der Schwerstbehinderten nach §8 VO-SF einzuordnen.