Inhalt:
1. Begriffsklärung: Ethik, Mensch
2. Beziehungsgefüge: Religion - Wissenschaft
- Ethik
3. Medizinische Ethik in den verschiedenen Religionen
4. Leiden/ Behinderung und Ethik
5. Leben und Ethik
6. Tod und Ethik
7. Bioethik-Konvention
8. Praktische Ethik nach Peter Singer
Literatur
1. Begriffsklärung: Ethik, Mensch
Ethik
- Funktion der Ethik: alte Fehler nicht immer wieder neu machen
- moderne Ethik raubt dem Menschen immer mehr das Geheimnis des Beginns
und des Endes seiner Existenz
- dem Anfang des menschlichen Lebens geht sein Geheimnis verloren,
indem das Leben selbst technisch reproduzierbar geworden ist und
- dem Ende dadurch, dass der Vorgang des Sterbens in einzelne Teiltode
zerlegt wird
Drei Geschichten von der Menschwerdung des Menschen
- Die Menschwerdung des Menschen in der Sicht der anthropologischen und
der Verhaltensforschung
- ausgehend davon, was den Menschen vom Tier unterscheidet (Entdeckung
des Feuers, Fähigkeit Werkzeuge herzustellen, Hirnwachstum, aufrechter
Gang, Sprachfähigkeit)
- Humanität, als die Achtung vor dem Menschen als Menschen, ist
nicht angeboren, sondern muss menschheitsgeschichtlich erworben und
errungen werden
- Die Menschwerdung des Menschen in religionsgeschichtlicher Sicht
- beim archaischen Menschen wurde eine Zweibeiner erst durch die geordnete,
rituelle Aufnahme in die Gemeinschaft zum Menschen zweite oder soziale
Geburt
- bei vielen Völkern wurden Kinder, wenn sie behindert, missgestaltet
oder mit einem anderen, das Heil der Gruppe bedrohenden Defizit behaftet
waren, nicht in den Kreis aufgenommen, sondern getötet
- das war aber kein Mord, da diese Wesen ohne die soziale Geburt
noch nicht als Mensch angesehen wurden
- bis heute haben wir gelernt, die Zugehörigkeit zum Kreise der
Menschen vorzuverlegen und zu erweitern: schon durch physische Geburt,
bzw. schon vom Augenblick der Befruchtung der Eizelle an bewerten wir
Leben als menschliches Leben, das Anrecht auf den mit der Menschenwürde
gegebenen Schutz hat
- Eine biblische Geschichte von der Menschwerdung des Menschen
- Geschichte vom Sündenfall: quasi-zeitliche Darstellungsweise,
die erzählt, wie der erste Mensch zum ersten Mal die Hand Ausstreckt
zum Selber-Tun, zum Selber-Wollen und zum Selber-Verantworten und damit
in den Horizont der Geschichte eintritt, zugleich die Tür zum Paradies
hinter sich zuwerfend
- von nun an ist Geschichte, Kultur, Mündigkeit die neue Möglichkeit
und zugleich unentrinnbare Bestimmung des Menschen
2. Beziehungsgefüge: Religion -
Wissenschaft - Ethik
- ethischer Grundsatz: diagnostische Verfahren - jedenfalls risikoreiche
- sind nur zu rechtfertigen, wenn prinzipiell die Möglichkeit eines
therapeutischen Nutzens für das betroffene Individuum daraus resultiert
- Diagnose, die das Ziel hat, den Träger einer Krankheit zu töten,
kann sicher nicht als therapeutische Methode für diesen selbst bezeichnet
werden
- nicht das ungeborene Kind, sondern die Familie oder die Gesellschaft
wird als therapeutisches Objekt aufgefasst
- Neuerung für die medizinische Ethik
- fundamentale ethische und zugleich theologische Frage:
- Gibt es etwas, was dem Menschen grundsätzlich verboten, erlaubt
und geboten ist, nur von den guten oder bösen Zielen und Folgen
her, also vom Gebrauch, den der Mensch von seinem Wissen und Können
macht?
- Ist Wissenschaft an sich gut oder wenigstens wertneutral; wird sie
nur durch ihre Anwendung, durch die Ziele, die der Mensch mit ihr verfolgt,
gut oder böse?
- theologisch gesprochen: Ist Wissenschaft an sich frei von Sünde?
Oder ist es möglich, dass Wissenschaft an sich, als Erforschung
des Seienden, als Wahrheitssuche doch nicht sündenfrei ist?
- zunehmend hat sich in den letzten Jahrzehnten auch die Theologie und
selbst die Kirche für die Freiheit der wissenschaftlichen Neugierde
eingesetzt und behauptet, Wissenschaft sei immer Wahrheitssuche und als
solche sündenfrei
- damit war nicht nur die grenzenlose Neugierde, sondern - da die
neuzeitliche Wissenschaft mit der Erforschung der Natur immer zugleich
auf Machtgewinn und Herrschaft über die Natur ausgerichtet ist
- auch die Unterwerfung der Natur unter vom Menschen gesetzte Zwecke
philosophisch und meist auch theologisch gerechtfertigt
- man kann die Erforschung der Natur nicht mehr verbieten, jedoch ist
zu beachten, dass die neuzeitliche Wissenschaft die Natur nicht mehr - wie
in der Antike - in erster Linie erforscht, um sie besser zu verstehen und
sich dann gemäß den Ordnungen der Natur zu verhalten
- die Natur wurde als Lehrmeisterin und Norm für menschliches
Handeln betrachtet und möglichst nicht verändert (höchstens
gemäß den Absichten, die in der Natur selbst liegen)
- zunehmend ausgeweitet zu einem grenzenlosen Herrschaftsrecht des
Menschen über die Natur
- zielt auf Machtgewinn über die Natur und keinesfalls mehr nur
auf die Erkenntnis der Wirklichkeit
- Wissenschaft ist überhaupt nicht loszulösen von den Personen
und gesellschaftlichen Institutionen, die sei betreiben, und diese wiederum
sind nicht frei von Interessen und Bedürfnissen, wie dem streben nach
Anerkennung und ökonomischem Gewinn
- die Natur wird nicht mehr als Schöpfung und der Mensch als Vernunftwesen
nicht mehr als Geschöpf, sondern als Herr der Natur betrachtet, der
der Natur den Stempel seines Geistes aufprägen soll
- Achtung vor der Natur als Schöpfung Gottes und der Kreatur als
Mitkreatur, Ehrfurcht vor dem Leben und eine Ethik der Selbstbegrenzung
sind diesem neuzeitlichen Wissenschaftsverständnis fremd
- Ziele der Forschung: dass der Mensch total über sich selbst, sein
leibliche Verfasstheit, seine Fortpflanzung, den Zeitpunkt seines Todes
und die gesamte Entwicklung des Lebens verfügt
- zur Legitimation des neuzeitlichen Verhältnisses des Menschen zur
Natur werden einseitig diejenigen Bibelstellen herangezogen, die die Herrschaft
über die Natur als göttliche Bestimmung des Menschen herausstellen
- Genesis 1, 28: Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid
fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie
euch untertan, und herrschet über die Fische im Meer und die
Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf
der Erde sich regen!
- Psalmen 8, 7: Du setztest ihn zum Herrscher über das Werk
deiner Hände, alles hast du ihm unter die Füße gelegt:
(...)
- werden überspitzt so interpretiert, als sei der Mensch nicht
eingebunden ins natürliche Dasein, sondern er sei das eigentliche
Gegenüber und der Herr der Schöpfung
- dabei wird verkannt, dass alle Kreatur - und somit auch der Mensch
- nur ein Leben hat, sofern und solange Gott seinen Leben schaffenden
Geist gibt
- Genesis 2, 7: (...) da bildete Gott der Herr den Menschen aus
Erde vom Ackerboden und hauchte ihm Lebensodem in die Nase; so ward
der Mensch ein lebendes Wesen.
- Psalmen 104, 29 f.: Wenn du dein Angesicht verbirgst, erschrecken
sie; nimmst du ihren Odem hin, so verscheiden sie und werden wieder
zu Staub. Sendest du deinen Odem aus, so werden sie geschaffen,
und du erneust das Antlitz der Erde.
- an den Krankenheilungen Jesu wird ersichtlich, dass Jesus die ernsthafte
Krankheit nirgends als ein Gottes Willen entsprechendes Verhängnis
bejaht, geschweige den vom Segen der Krankheit geredet, sondern sie immer
bekämpft hat
- wenigstens die das Leben schwer belastende oder gar zerstörende
Krankheit kann - wie die Sünde - nur als Gestalt und Ausdruck der Macht
des Nichtigen verstanden werden, das Gott nicht gewollt, nicht geschaffen
und nicht bejaht hat
- das Wissen darum, dass Sünde, Krankheiten, Elend und der in ihrem
Gefolge auftretende Tod nicht zu Gottes guter Schöpfung gehören,
dass Gott diese Leben zerstörenden Mächte verneint und bekämpft,
stachelt zum berechtigten Kampf gegen die negativen, zerstörerischen
Seiten der Natur an und ist eine der geistigen Ursachen der abendländischen
und neuzeitlichen Medizin
- in der Natur, wie wir sie vorfinden, sind also Natur als Schöpfung
Gottes und Unnatur als das, was Gottes Schöpfung zerstört und
nur in dieser von Gott verneinten Wirkung seine Existenz hat, in oft undurchsichtiger
Weise vermischt
- somit kommt es nicht nur darauf an, dass wir die Übel in der
Natur und in der Welt bekämpfen und ob wir in die Natur eingreifen,
sondern vor allem wie, mit welchen Zielsetzungen und Mitteln wir es
tun
- es besteht die Gefahr, dass mit den bekämpften Übeln auch
die gute Natur zerstört oder vernichtet wird und den zerstörerischen
Faktoren in dieser Welt durch Menschenhand weitere zufügt, ja vielleicht
viel mehr Übel durch die Eingriffe erzeugt als beseitigt werden
- ethische Regel: Eingriffe in die natürlichen Lebensprozesse sollten
um so behutsamer, langsamer und kontrollierter vorgenommen werden, je tiefer
durch sie die biologischen Grundlagen des Lebens erfasst und umgestaltet
werden können und je weniger die Folgen solchen Handelns absehbar sind
- nachdem Jahrhunderte lang Schöpfung und Naturwissenschaft nicht
nur durch ein "und" verbunden, sondern durch ein strenges „entweder
- oder" einander entgegengesetzt worden waren, hatte sich seit Beginn
unseres Jahrhunderts ein Bewusstseinswandel angebahnt, der die alten Frontstellungen
aufgebrochen und zu einer differenzierten Beurteilung geführt hat,
die und gelehrt hat, beiden Sichtweisen (der naturwissenschaftlichen Welterklärung
und technischen Weltgestaltung und der theologischen Deutung der Welt als
Schöpfung Gottes) ihr begrenztes Recht einzuräumen
- jetzt ist die alte Frage wieder aufgebrochen durch zwei Aspekte:
- sehr rasanter Aufschwung naturwissenschaftlich-technischer Leistungen,
so dass viele Menschen das Gefühl haben, der überlieferte
Glaube an die Schöpfung könne mit dem atemberaubenden Tempo
solcher Forschungen doch nicht Schritt halten
- Fundamentalismus, der aus den USA kommt und unter dem Namen „Creationismus"
wieder die Unvereinbarkeit der biblischen Schöpfungslehre mit naturwissenschaftlicher
Forschung, vor allem auch mit der biologischen Evolutionstheorie, behauptet
und zu beweisen versucht
- Geschichte kirchlicher Forschungsverbote hat bisher stets mit Niederlagen
für die Kirche geendet
- Streit um die Schöpfung wurde nicht nur nach außen, gegen
die Wissenschaft geführt, sondern auch nach innen:
- Dürfen die biblischen Aussagen über die Schöpfung
wirklich als erd- und menschheitsgeschichtliche Daten gelesen werden
oder verweist Schöpfung möglicherweise in ganz andere Zusammenhänge?
- biblische Rede von der Schöpfung formuliert keine Sachverhalte,
die sich durch empirische Forschung verifizieren oder falsifizieren
lassen, sondern ein Bekenntnis; d.h. sie gibt Antwort auf die Frage
nach grundlegender Sinnorientierung unseres Lebens
- Eigenart der biblischen Überlieferung selbst verbietet es uns,
aus ihren Aussagen quasi naturwissenschaftliche Sätze herauszulesen,
die gegen alle Vernunft und gegen alle Erfahrung geglaubt und von der Forschung
als dogmatische Vorgabe akzeptiert werden müssten
- Adam ist natürlich nicht der erste Mensch im Sinne der Abstammungslehre,
Adam ist nicht der Name einer historischen Person der Menschheitsgeschichte,
sondern bedeutet ein Kollektivum, das den Menschen im Sinne des Wesensbegriffs
bezeichnet
- Gottesbildlichkeit des Menschen in Genesis 1, 27 (Und Gott schuf den
Menschen nach seinem Bilde, nach dem Bilde Gottes schuf er ihn; ...): ist
keine konstatierende Beschreibung, sondern vielmehr an der Benennung der
Konsequenzen der dem Menschen zugewiesenen Funktion interessiert
- Mensch ist mit doppeltem Auftrag in die Welt gesetzt:
- Auftrag zur Stellvertretung Gottes gegenüber der außermenschlichen
Welt
- Gemeinschaft zwischen den Menschen
- kann sein Menschsein nur in der eigenverantwortlichen Erprobung seiner
Möglichkeiten ergreifen
- Ergreifen der eigenen Verantwortung ist unerlässliche Bedingung
für die Menschwerdung des Menschen
- Jesus hat den Menschen in den Mittelpunkt seiner Botschaft und seiner
Lebensführung gerückt und damit den auf Gemeinschaft zielenden
Teil des Schöpfungsauftrages beispielhaft verwirklicht
- die Bibel ist kein Gesetzbuch für alle Zeiten und Lebenslagen;
Ethik sucht darum nicht zunächst Einzelanweisungen, sondern Grundlinien
der Orientierung über Leben und Welt in der Bibel
- in der Bibel aufbewahrte Einzelanweisungen sind geschichtlich zu
interpretieren; inwieweit sich zeitbedingte Regelungen finden, die in
veränderten Situationen so nicht mehr geltend gemacht werden können
- Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technik stellen Ethik
vor ganz neue Fragen, die für unsere Überlieferung keine Weisungen
bereithält; wir müssen sehen, inwieweit aus der mit dem Wort
Schöpfung bezeichneten Grundorientierung Richtungsdaten zu gewinnen
sind,
- Christen können sich aus dem Streit um solche Fragen nicht
heraushalten; Schöpfungsverantwortung äußert sich im
beharrlichen Fragen: wem dient oder schadet diese oder jede Maßnahme
und wer bezahlt den (meist nicht nur finanziellen) Preis?
3. Medizinische Ethik in den verschiedenen
Religionen
Die medizinische Ethik im Katholizismus
- Tätigkeit des Arztes als Nachahmung der heilenden Wirkung Christi
- seit 1971 in USA geltende Normen: Ethical and Religious Directives for
Catholic Health Care Facilities
- katholische Kirche bleibt übergeordnete Instanz für die
ethischen Entscheidungen in der Naturwissenschaft und Medizin: Richtlinien
legen unmissverständlich die in verschiedenen Problemkreisen der
medizinischen Ethik jeweils als richtig angesehene Entscheidung fest
- künstliche Kontrazeption ist falsch
- Sterilisation ist mit Ausnahme der therapeutischen Entfernung
erkrankter Organe ebenfalls nicht statthaft
- auch die künstliche Insemination mit dem Samen des Mannes
wird abgelehnt
- kein Unterschied zwischen Maßnahmen, die die Implantation
des befruchteten Eies behindern und solchen, die einen Abortus zur
Folge haben
- bei einer extrauterinen Schwangerschaft darf erst dann eingegriffen
werden, wenn der Schaden der benachbarten Organe ein Ausmaß
erreicht, das ein operatives Vorgehen rechtfertigt (trotz der Gefahr
einer bleibenden Sterilität)
Die medizinische Ethik aus der Sicht des Protestantismus
- keine offiziellen Richtlinien zu Fragen der ärztlichen Ethik, aber
Stellungnahmen zu bestimmten spezifischen Problemen
- kirchlich begründete Bejahung der Kontrazeption
- Meinungen hinsichtlich der Abtreibung variieren zum Teil stark, volle
Übereinstimmung jedoch darüber, dass bei Gefahr für das Leben
der Mutter die Indikation gegeben ist
- Sterbehilfe: Recht des unheilbar Kranken, auf weitere medizinische Maßnahmen
zu verzichten, um eine Verlängerung seines Sterbens zu verhindern;
aktive Euthanasie wird abgelehnt
Richtlinien der jüdischen Religion
- Heilung der Kranken gilt als religiöses Gebot
- Jeder, der die Möglichkeit hat, ein Leben zu retten und dies unterlässt,
handelt gegen die Vorschrift
- Notwendigkeit, alle Patienten gleich zu behandeln
- auch für das geistige Wohl sollte gesorgt werden (Ausübung
der religiösen Pflichten ermöglichen)
Die Haltung des Islam in Fragen der medizinischen Ethik
- medizinische Ethik wird durch die Weisungen des Koran bestimmt: das
Leben und der Tod kommen von Allah und er ist es, der tötet und lebendig
macht
- Kindestötung und somit auch Abtreibung sind verboten
- bei Gefahr für das Leben der Mutter bejahen viele Ärzte den
Schwangerschaftsabbruch
- gewisse Mehrdeutigkeit in der Interpretation der Weisungen des Korans
in Fragestellungen, die sich aus der Anwendung neuer therapeutischer Maßnahmen
ergeben
4. Leiden/ Behinderung und Ethik
- wenn Artikel 2 des Grundgesetzes das Recht auf Leben und körperliche
Unversehrtheit als Grundrecht proklamiert, dann folgt daraus
- niemand hat das Recht, das Leben oder die Gesundheit eines anderen
Menschen zu beschädigen, auch nicht das eigene Leben und die eigene
Gesundheit
- Unterscheidung zwischen veränderbaren und nicht veränderbaren
Bedingungen einer Lebenssituation; es müssen alle verantwortbaren
und zumutbaren Schritte unternommen werden, um beeinflussbare Störungen
auszuschalten und damit vermeidbare Beeinträchtigungen zu beseitigen
- erkennbare Beeinträchtigung gibt uns nicht das Recht, einen
solchen Menschen gar nicht erst zum Leben kommen zu lassen
- Behinderte und Nichtbehinderte sind Menschen mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen
und darum unterschiedlichen Möglichkeitshorizonten, die lernen müssen,
mit ihren Beeinträchtigungen zu leben, d.h. zu bessern, was gebessert
werden kann und anzunehmen, was nicht zu ändern ist
- Zielrichtung der biblischen Rede von der Schöpfung: es gibt kein
Recht auf beschädigungsfreie Erstausstattung, kein Recht auf Gesundheit
oder nichtbehinderte Kinder
- gerade auch durch genetische Fehlregulationen und Normabweichungen gewinnen
die Krankheiten und damit das Leben zerstörende Böse Macht in
der guten Schöpfung Gottes
- es kann daher, theologisch betrachtet, nicht grundsätzlich
unerlaubt sein, Krankheiten auf genetischer Ebene zu bekämpfen
- es gibt sehr viele Abweichungen von der biologischen Norm, bei denen
fraglich ist, ob ihnen Krankheitswert zukommt; diesen bekommen sie erst,
wenn sie mit körperlichem oder seelischem Leiden verbundene erhebliche
Lebenseinschränkungen nach sich ziehen
- wenn man nicht ausschließlich die Heilung, sondern auch den
Schutz des Lebens unter die therapeutischen Ziele fasst, dann lassen
sich auch die Bestrebungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen, etwa
die Steigerung von Nahrungserträgen, berechtigterweise darunter
einordnen
- es entsteht leicht ein gesellschaftlicher Zwang zur Gesundheit und zur
Eliminierung gesellschaftlich unerwünschten Lebens
- christliche Ethik hat darauf aufmerksam zu machen, dass es neben der
Gesundheit andere Werte gibt, von deren Beachtung die Humanität in
der Gesellschaft abhängt
- dazu gehört nicht zuletzt die Achtung vor dem Leben, insbesondere
der Würde des Menschenlebens und sein Schutz vor dem Gebrauch als
reinem Mittel zum Zweck
- ethische Regel:
- Der Krankheitswert einer Abweichung von der biologischen Norm sollte
um so eindeutiger sein und schwerer wiegen, je tiefer durch die Methoden
zur Behandlung der Krankheit in das natürliche Lebensgeschehen
eingegriffen wird und je außergewöhnlicher, aufwendiger und/
oder in ihren sozialen und moralischen Folgen bedenklicher diese Methoden
sind.
- die meisten Menschen leben mit Behinderungen
- behinderter Mensch hat andere Lebensbedingungen als die meisten, aber
die meisten, eigentlich alle, müssen, jeder auf seine Weise, mit Beeinträchtigungen
fertig werden, die sich nicht wegschaffen lassen
- nicht unter dem Gesichtspunkt der Höher- oder Minderwertigkeit,
sondern der Andersartigkeit der Lebensbedingungen betrachten
- alle Menschen müssen mit Begrenzungen leben und erfahren diese
Begrenzungen als Beeinträchtigungen; dazu kommt, dass Menschen unterschiedlich
belastungs- und leidensfähig sind
- wir verstehen Gesundheit als die Bereitschaft und Fähigkeit und
Kraft, mit den Begrenzungen oder Störungen oder Schädigungen zu
leben
- geschichtliches Erbe des Christentums
- Genesis 1, 31 (Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und
siehe, es war sehr gut.) kann nicht nur für die heile Welt gelten,
sondern auch für Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben
müssen
- dass Jesus kranke und behinderte Menschen geheilt hat, wird von
der neutestamentlichen Forschung als sicher angesehen
- Jesus wies die allgemein übliche Bewertung von Krankheit als
Folge von Verfehlungen und Sünden zurück und bahnte dagegen
eine Bewegung der Solidarisierung mit diesen Menschen an
- Achtung vor jedem Menschen
- in jeder Situation am Vertrauen festhalten, dass Gottes bergende
Hand uns immer hält und trägt
- Jesus heilte nicht alle Krankheiten, sein Heilungsimpuls zielte
auf Störungen in den Lebensbeziehungen von Menschen ab
- Grenzverschiebungen
- heutige Möglichkeiten von Reanimation und Intensivmedizin versetzen
uns in die Lage, Leben zu retten und Operationen unter Bedingungen durchzuführen,
für die es früher nur eine eindeutige Prognose gab: Sterben
und Tod; wir können aber auch einen Menschen in einem Zustand am
Leben erhalten, bei dem seine geistigen Fähigkeiten und für
uns erkennbaren kommunikativen Möglichkeiten erloschen sind
- früher lernten wir ein Kind erst bei seiner Geburt kennen,
heute können wir sein Geschlecht, seine genetische Struktur sowie
Entwicklungsstörungen und Schädigungen während seiner
Entwicklung bereits im Mutterleib erkennen
- verschwommene Grenze: Abtreibung bis zur Geburt hin nach §218
erlaubt, aber Frühgeburten können am Leben erhalten werden
- Korrekturmöglichkeiten für Schäden und Fehler
- Grundsätze:
- Niemand hat ein Recht zu töten
- behinderte Menschen sind Menschen
mit anderen Startbedingungen, aber ohne Einbuße an Menschenrechten
und Menschenwürde
- Grenze der ärztlichen Behandlungspflicht
ist der irreversible Funktionsausfall des Gehirns (Hirntod)
- wenn sich ein neugeborenes Kind
als sterbendes erweist, ist es ein Gebot der Vernunft und der Menschlichkeit,
dieses Kind sterben zu lassen
- Abtreibung
- erste Frage sollte nicht auf das
Ausmaß der möglichen Schädigungen abzielen, sondern
darauf, ob es grundsätzlich und auf Dauer, gegebenenfalls mit Hilfe
und Unterstützung ärztlichen Eingreifens imstande ist, aus
eigener Kraft zu leben
- Brücke, die nachgeburtliche
Medizin mit der vorgeburtlichen Diagnostik verbindet: Abtreibung
- bloße Möglichkeit der
Abtreibung wird schnell zur zwingenden Praxis, wenn bei Nachweis einer
schweren psychogenetischen oder biochemischen Anomalie als einzige Konsequenz
der Schwangerschaftsabbruch zur Vermeidung der Geburt eines genetisch
kranken Kindes bleibt
- gesellschaftliche Erwartung legt
Frauen (besonders wenn sie über 35 Jahre alt sind) die moralische,
womöglich versicherungsrechtliche Verpflichtung auf, sich den entsprechenden
Vorsorgeuntersuchungen zu unterziehen, um im Falle einer nachweisbaren
Schädigung eine Abtreibung herbeizuführen
- planmäßiger Einsatz des
Schwangerschaftsabbruchs zur Selektion (zur Verhinderung behinderter
Kinder) in Verbindung mit einer sich ausbreitenden Reklamationsmentalität
- es muss anerkannt werden, dass durch
Pränatale Diagnostik manche Abtreibungen verhindert werden, die
sonst vielleicht aus Sorge vor einer möglichen Schädigung
des Kindes vorgenommen würden
- Einbecker Empfehlungen zur Früheuthanasie
- Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwergeschädigten
Neugeborenen (Revidierte Fassung 1992)
- Präambel:
- Orientierungshilfe für
die konkrete, vom einzelnen Arzt jeweils zu verantwortende Situation
- Ausgangspunkt bleibt die grundsätzliche
Unverfügbarkeit menschlichen
Lebens in jeder Entwicklungs- und Altersstufe
- Kapitel 1:
- das menschliche Leben ist ein
Wert höchsten Ranges
- Abstufung des Schutzes des Lebens
nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit oder dem geistigen
Zustand verstößt gegen Sittengesetz und Verfassung
- Kapitel 2:
- gezielte Verkürzung des
Lebens eines Neugeborenen durch aktive Eingriffe ist Tötung
und verstößt gegen die Rechts- und die ärztliche
Berufsordnung
- Umstand, dass dem Neugeborenen
ein Leben mit Behinderungen bevorsteht, rechtfertigt es nicht, lebenserhaltende
Maßnahmen zu unterlassen oder abzubrechen
- Kapitel 3:
- Pflicht zur Behandlung und zur
personalen Betreuung endet mit der Feststellung des Todes des Neugeborenen
- Kapitel 4:
- Arzt ist verpflichtet, Leben
zu erhalten sowie bestehende Schädigungen zu beheben oder zu
mildern
- Behandlungspflicht ist an ethischen
Kriterien und am Heilauftrag auszurichten
- es gibt Fälle, in denen
der Arzt nicht den ganzen Umfang der medizinischen Behandlungsmöglichkeiten
ausschöpfen muss
- Kapitel 5:
- Situation ist gegeben, wenn
nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erfahrungen und menschlichem
Ermessen das Leben des Neugeborenen nicht auf Dauer erhalten werden
kann, sondern ein zu erwartender Tod nur hinausgezögert wird
- Kapitel 6:
- aufgrund der begrenzten Prognosesicherheit
besteht für den Arzt ein Beurteilungsrahmen für die Indikation
von medizinischen Behandlungsmaßnahmen, insbesondere, wenn
diese dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren
Schädigungen ermöglichen würden, für die keine
Besserungschancen bestehen
- Kapitel 7:
- auch, wenn im Einzelfall eine
absolute Verpflichtung zu lebensverlängernden Maßnahmen
nicht besteht, hat der Arzt für eine ausreichende Grundversorgung
des neugeborenen, für Leidenslinderung und menschliche Zuwendung
zu sorgen
- Kapitel 8:
- Eltern/ Sorgeberechtigte sind
über die bei ihrem Kind vorliegenden Schäden und deren
Folgen sowie über die Behandlungsmöglichkeiten und deren
Konsequenzen aufzuklären
- auch die Erfahrungen der mit
der Betreuung und Pflege des Kindes vertrauten Personen gehen in
die Entscheidungen mit ein
- gegen den Willen der Eltern
darf eine Behandlung nicht unterlassen oder abgebrochen werden
- Atheisten sehen im Vorhandensein von
Leid einen Beweis gegen die Existenz Gottes
- neuere prozesstheologische Lösungsversuche:
- These, dass Gott nicht allmächtig ist
- Theodizee der Seelenbildung (Ziel der Schöpfung: freie Menschen
erschaffen; Freiheit bedeutet, dass sie nicht nur das Gute, sondern
auch das Böse und das Leid kennen lernen)
- Religion kann für einen Behinderten eine große Hilfe sein,
wenn man sich als Geschöpf Gottes versteht und sein Leben in allen
Ausprägungen so von Gott gewollt versteht und es somit als sinnerfüllt
wahrnimmt
- heutzutage möchten Menschen der westlichen Welt ihr Leben als Karriere
betrachten können
- Menschen, die auf der Erfolgsleiter durch Erkrankung oder Unfallfolgen
daran gehindert sind, die zuvor gesetzten Ziele zu erfüllen, genügen
dem allgemeinen, und vor allem dem eigenen Leistungsanspruch nicht mehr
- da das Selbstwertbewusstsein in unserer Gesellschaft über Leistung
und Arbeitsfähigkeit definiert wird, verlieren diese Menschen zumindest
anfangs zwangsläufig an Selbstachtung
5. Leben und Ethik
Eingriffe in Keimzellen
- der Mensch schickt sich an, selbst Schöpfer von Leben zu werden,
menschliches Leben nach seinem Bild zu formen
- dabei ist zu bedenken, dass durch
einen einmaligen Eingriff in die Keimzellen das Leben aller Nachkommen
bestimmt wird
- diese zeitliche Dimension eines
solchen Eingriffs ist von entscheidender ethischer Bedeutung, denn gegenwärtig
Lebende entscheiden damit über das Geschick zukünftiger Generationen,
legen sie auf das von ihnen jetzt entworfene Bild in einer Weise fest,
wie es durch sonstiges Handeln kaum möglich ist
- für viele Christen stellt sich
nun - wenn auch meist erst bei der Anwendung gentechnischer Methoden an
Keimzellen von Menschen - die Frage, ob denn dann der Mensch noch als Geschöpf
Gottes verstanden werden kann
- die Alternative: entweder handelt
Gott oder der Mensch, ist theologisch nicht haltbar, weil Gottes Handeln
nicht als eine Weltursache neben anderen auf der selben seinsmäßigen
ebene gedacht werden darf und daher menschliches Handeln auch nicht
in Konkurrenz zum göttlichen handeln treten muss
- der Mensch kann mit seinem Handeln
einbezogen sein in Gottes schöpferisches Wirken
- dem Gedanken, das Werden eines Kindes
sei die kausale Folge eines Willensentschlusses und Werkes des Menschen,
entspricht
- einerseits die Forderung, ein werdendes
Kind wegmachen zu dürfen, wenn es ein ungewolltes, unvorhergesehenes
Produkt des Zufalls ist oder nicht unseren Vorstellungen von sogenanntem
lebenswerten Leben entspricht, und
- andererseits der Wille es mit technischen
Mitteln zu machen, wenn es sich nicht als Naturereignis einstellt
- Verständnis von Leben hat erhebliche
ethische Konsequenzen:
- wenn Leben, auch nichtmenschliches
Leben, sein Daseinsrecht von Gott hat, dann hat es der willkürlichen
Verfügungsgewalt und der totalen Besitzergreifung durch den Menschen
entnommen zu sein
- anthropozentrische Sicht der Schöpfung
ging bestenfalls davon aus, dass sich die Lebensstufen hierarchisch aufbauen,
dass die niedrigeren Lebensstufen nicht nur Grundlage des höheren Lebens
sind, sondern ihren Zweck in der Ermöglichung der höheren Lebensstufe
haben, deshalb Mittel für sie sind und von daher ihr Daseinsrecht erst
verliehen bekommen, alles Dasein
dient letztlich als Mittel für den Menschen
- dieser Ansatz ist einem anderen
Denkmodell unterzuordnen, nach dem alles Dasein, ganz abgesehen von
seiner Funktion als Grundlage und Ermöglichung höheren Lebens,
zunächst einmal in sich selbst einen unmittelbaren, nicht durch
den Menschen vermittelten Bezug zu Gott hat, weil Gott dieses Leben
geschaffen hat und erhält, zu ihm ständig in Beziehung tritt
und steht
- so gesehen trägt das nichtmenschliche
Leben zunächst erst mal seinen Wert und sein Daseinsrecht in sich
selbst, ganz abgesehen von dem Wert für den Menschen, also seinem
Nutzen
- biblisch zu sehen ist dies so auszudrücken,
dass die Gottesebenbildlichkeit des Menschen sich in seinem Weltverhalten
darin bewährt, dass der Mensch Verantwortung für die Schöpfung,
die nichtmenschliche, vernunftlose Kreatur übernimmt, die Schöpfung
bebaut, bewahrt und pflegt (Genesis
2, 15: Und
Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass
er ihn bebaue und bewahre.) und
sie vor rücksichtsloser, den Eigenwert missachtender, sie zu egoistischen
Zwecken ge- und verbrauchender Willkür schützt
- Leben ist also nicht Besitz des Menschen,
über den er ausschließlich nach Gesichtspunkten des Nutzens für
sich selbst verfügen, ihn entsprechend gebrauchen und verbrauchen darf;
Leben ist in anderer Weise zu schützen als Sachen, die der Mensch produziert
- uneingeschränktes Daseinsrecht
gilt erst recht für menschliches Leben, das nach christlicher Lehre
mit der besonderen Würde der Gottesebenbildlichkeit ausgezeichnet ist
- Mensch ist und wird Person ohne sein
Zutun, allein durch Gottes Handeln, das allem menschlichen handeln vorgeordnet
ist, demgegenüber er sich nur als passiv empfangendes Wesen verhalten
kann; daraus folgt
- einmal, dass die Würde des
Menschen keine empirisch aufweisbare Qualität und Verhaltensweise
ist und erst recht nicht aus dem Tun des Menschen sich aufbaut und
- zum anderen, dass die Gottesebenbildlichkeit
ein Kontinuum ist, das von Gott her bleibend jedem Moment unseres Lebens
und Sterbens zugeordnet ist
- das Personsein kann daher weder
durch Krankheit, Versehrung, physischen Verfall noch durch moralisches
Versagen in Verlust geraten
- wir haben demnach weder das Recht,
einem menschlichen Leben aufgrund eines bestimmten Grades der Entwicklung
psychisch-geistiger Fähigkeiten das Personsein zuzusprechen, geschweige
denn, ihm diese Würde abzusprechen, es zu nichtmenschlichem Leben
zu erklären
- es ist umstritten, inwiefern den frühen
Entwicklungsstadien das Prädikat menschliches Leben zukommt
- die biologische Individualität
wird durch die Neukombination der Gene bei den Reifeteilungen und vor allem
bei der Verschmelzung des genetischen Materials der Samenzelle mit dem der
Eizelle grundgelegt
- die wertmäßige Differenz
zwischen frühen Entwicklungsstadien, unausgereiftem und entfaltetem
Leben muss damit nicht geleugnet werden
- sie bekommt dort ihre ethische Bedeutung
für das Handeln, wo sich noch entwickelndes und entfaltetes Leben
in eine unabwendbare Konkurrenz zueinander treten, wo das werdende Leben
das entfaltete Leben seiner Mutter in seiner physischen und psychischen
Gesundheit eindeutig bedroht
- dann ist dem entfalteten Leben
um so mehr der Vorzug zu geben, je mehr es nicht nur für sich
selbst, sondern auch für andere Verantwortung zu tragen hat
und je weniger weit das werdende Leben entwickelt ist
- eine Rechtfertigung für die
Vernichtung von Werdendem Leben kann es nur dann geben, wenn das werdende
Leben das entfaltete Leben irgendwie bedroht, wie es beim straffreien
Schwangerschaftsabbruch selbst bei der sozialen Notlagenindikation noch
vorausgesetzt ist
- es herrscht nicht nur bei Theologen
Einigkeit darüber, dass es sich von der Befruchtung an um spezifisch
menschliches Leben und damit auf jeden Fall um ein besonderes, eigenständiges
Rechtsgut von hohem schützenswerten Rang handelt
- auch im Stadium der ersten Zellteilung
besitzt der Embryo schon die gleiche ethische Qualität wie ein
Fetus in der vorgerückten Schwangerschaft (Gegensatz
zu Singer)
- Sinnhaftigkeit des Lebens kann nicht
durch einen anderen Menschen gesetzt werden
- es ist bekannt und verständlich,
dass Ärzte ihr Handeln bewusst oder unbewusst durch ihre individuellen
Wertsetzungen bestimmen lassen; sie bieten beispielsweise eine größere
Anstrengung auf, wenn es sich bei der sterbenden Person um einen jüngeren
Menschen handelt
- es ist ein Unrecht, das Leben von aufgeklärten
und urteilsfähigen Kranken gegen deren Wille zu verlängern; solchen
Patienten wird somit zumindest implizit ein moralisches Recht eingeräumt,
zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben, bezüglich ihrer eigenen
Person zu entscheiden
- es ist nicht statthaft, wenn solche
Entscheidungen von außen für den nicht (mehr) urteilsfähigen
Patienten gefällt werden
- Abtreibung ist länger möglich,
wenn pränatal feststellbare Behinderung eindeutig vorliegt; Wert des
Embryos wird folglich als geringer eingestuft
6. Tod und Ethik
- jedes Leid, welches den Betroffenen einen Todeswunsch äußern
lässt, ist ernst zu nehmen
- jedoch Differenzierung nach der Ursache des Leidens:
- an einem intrinsischen Ursprung
(Krankheit, Behinderung, ...) lässt sich in vielen Fällen
nichts verändern, aber
- ein extrinsischer Grund (Nichtgewährung
von humaner Hilfe, ...) ist dagegen vermeidbar, wenn die Verursacher
dazu bereit sind
- wenn Umstände (Behinderung, Krankheit,
Isolation) den Betroffenen daran hindern, seine Sozialkontakte zu pflegen,
spricht man vom sozialen Tod
- viele alte Leute erleben den sozialen
Tod bereits viele Jahre vor dem eigentlichen Tod
- wenn es Betroffenen für ihre eigene
Person unter ihren individuellen Wertmaßstäben unzumutbar erscheint,
sich in ein fremdbestimmtes Leben zu begeben, dies aber von der Gesellschaft/
den Leistungsträgern nicht respektiert wird, muss demjenigen die Möglichkeit
des Freitodes offen bleiben
7. Bioethik-Konvention
Zielsetzung und Inhalt des Übereinkommens
Zielsetzung
- Leitlinien:
- das Übereinkommen soll einen
gemeinsamen rechtlichen Rahmen zum Schutz der Menschenrechte und der
Menschenwürde bei der Anwendung von Biologie und Medizin im gesamteuropäischen
Raum festlegen
- Rahmenkonvention:
- zu Fragen, zu denen derzeit im europäischen
Raum kein Konsens zu erzielen ist, etwa zur Abtreibung oder zu den Grenzen
der Sterbehilfe, sind keine Aussagen enthalten
Allgemeine Grundsätze
- Präambel:
- es wird betont, dass der Mensch sowohl als Individuum als auch als
Mitglied der menschlichen Gattung geachtet und seine Menschenwürde
gewahrt werden muss
Artikel 2: Vorrang des menschlichen Lebewesens
- weiterer Grundsatz: Interessen des menschlichen Lebewesens haben Vorrang
vor rein gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Interessen
Artikel 3: Gleicher Zugang zur Gesundheitsversorgung
- Verpflichtung zu geeigneten Maßnahmen, um den gleichen Zugang
zur Gesundheitsversorgung für jeden ohne Diskriminierung zu gewährleisten
Einwilligung
Artikel 5: Allgemeine Aufklärung
- hoher Rang des Selbstbestimmungsrechts
- Einwilligung kann ausdrücklich mündlich oder schriftlich oder
in schlüssiger Form gegeben werden; für die Teilnahme an Forschungsprojekten
oder für die Entnahme von Körperteilen für Transplantationszwecke
muss spezielle, ausdrücklich und eigens erteilte Einwilligung des Patienten
eingeholt und schriftlich oder von einer amtlichen Stelle erteilt werden
- Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden;
Artikel 6: Schutz einwilligungsunfähiger Personen
- betrifft den Schutz einwilligungsunfähiger Personen (Personen,
die wegen ihrer mangelnden Reife (Kinder) oder ihres körperlichen oder
geistigen Zustands nicht in der Lage sind, eine rechtswirksame Einwilligung
abzugeben), bei denen Interventionen grundsätzlich nur zu ihrem unmittelbaren
Nutzen vorgenommen werden dürfen
- ärztliche Maßnahmen bei einwilligungsunfähigen oder
bei Erwachsenen sind nur mit Einwilligung des gesetzlichen Vertreters zulässig
- die Ansicht von Minderjährigen ist alters- und reifegemäß
zu berücksichtigen; auch einwilligungsunfähige Erwachsene sollten
in den Entscheidungsprozeß einbezogen werden, soweit dies irgend möglich
ist
Menschliches Genom
Artikel 11: Nichtdiskriminierung
- jede Form der Diskriminierung eines Menschen aufgrund seines genetischen
Erbes ist verboten
Artikel 12: Prädiktive genetische Tests
- regelt die engen Voraussetzungen für prädiktive genetische
Tests, die im Zusammenhang mit der Entwicklung einher medizinischen Therapie
stehen müssen und nur unter dem Vorbehalt der Gesundheitsbezogenheit
und mit angemessener genetischer Beratung durchgeführt werden dürfen
- vorhersagende Untersuchungen für bestimmte genetische Krankheiten
eröffnen für einige Patientengruppen die Möglichkeit, eine
vorbeugende Behandlung vorzunehmen oder die Risiken durch Veränderung
des Verhaltens, des Lebensstils oder der Umwelteinflüsse zu verringern;
bei bestimmten Krankheiten besteht diese Möglichkeit nicht
Artikel 13: Interventionen in das menschliche Genom
- verbietet Eingriffe in das menschliche Genom, die darauf abzielen, die
genetischen Eigenschaften der nachfolgenden Generationen zu verändern;
insbesondere genetische Veränderungen an Spermatozoen oder Eizellen,
die für die Befruchtung bestimmt sind, sind untersagt
- aber somatische Gentherapie (erwachsene Körperzellen, nicht aber
Keimbahnzellen eines einzelnen Patienten werden verändert) wird nicht
verboten
Artikel 14: Verbot der Geschlechtswahl
- verbietet die Geschlechtswahl bei Verfahren der Fortpflanzungsmedizin
(darunter fallen die künstliche Insemination, die In-Vitro-Fertilisation
sowie jedes Verfahren mit der gleichen Wirkung, das die Zeugung außerhalb
des natürlichen Ablaufs ermöglicht), einzige Ausnahme ist die
Vermeidung schwerer geschlechtsgebundener Erbkrankheiten
Wissenschaftliche Forschung
Artikel 17: Schutz einwilligungsunfähiger Personen bei Forschungsvorhaben
- gibt den Staaten die Voraussetzungen und Kriterien vor, die sie mindestens
zum Schutz der Betroffenen vorsehen müssen
- Absatz 1:
- Forschung an einwilligungsunfähigen ist grundsätzlich
nur dann erlaubt, wenn sie potentiellen Nutzen für die Probanden
verspricht, der in einem angemessenen Verhältnis zu möglichen
Risiken steht und wenn die Forschung mit einwilligungsfähigen Personen
nicht möglich ist
- Absatz 2:
- enthält Ausnahmeregelung für sogenannte überwiegend
fremdnützige Krankheitsursachen- und Therapieforschung
- Voraussetzungen:
- Möglichkeit der Erforschung ist bei einwilligungsfähigen
Personen nicht gegeben
- gesetzlicher Vertreter erteilt seine freie Einwilligung nach
entsprechender Aufklärung
- Betroffener hat kein ablehnendes Verhalten zum Ausdruck gebracht
- Forschung geht mit minimalem Risiko und minimaler Belastung
(bedeutet alltägliche Methoden, wie etwa Untersuchung und Mitnutzung
von Blut-, Speichel- und Urinproben oder das Wiegen, Messen und
Beobachten des Patienten) einher
- interdisziplinär besetzte Ethik-Kommission hat wissenschaftliche
Plausibilität und ethische Vertretbarkeit geprüft und
gebilligt
- Forschungsprojekt lässt letztlich Beiträge zu künftigen
Heilungschancen durch wesentliche Erweiterung des wissenschaftlichen
Verständnisses für den Zustand, die Krankheit oder die
Störung der Person erwarten
Artikel 18: Forschung an Embryonen in vitro
- schreibt angemessenen Schutz für den Embryo vor und verbietet die
Herstellung von Embryonen für Forschungsvorhaben
- kein ausdrückliches Verbot solcher Forschung, die nicht dem Wohl
des Embryos dient (wird allerdings in Deutschland so ausgelegt!)
Entnahme von Organen und Gewebe von lebenden Spendern zu
Transplantationszwecken
Artikel 20: Schutz einwilligungsunfähiger Personen
- absolutes Verbot der Organentnahme
- lediglich die Entnahme von regenerierbarem Gewebe (z.B. haut oder Knochenmark)
wird im Ausnahmefall zum Zwecke der Lebensrettung unter Geschwistern unter
strikten Voraussetzungen erlaubt
Verhältnis des Übereinkommens zu anderen Bestimmungen
Artikel 27: Weiterreichender Schutz
- es ist den Vertragsstaaten freigestellt, höhere Schutzstandards
einzuführen oder beizubehalten
Kritikpunkte
- Bioethik-Konvention ist
- willkürlich, nicht nachvollziehbar und auch unbegründet,
da sie nur einen Teil der medizinischen Probleme aufgreift (Themenkomplexe
wie Euthanasie, Abtreibung und künstliche Befruchtung fehlen)
- die Bioethik-Konvention hat keinen wirklichen Adressaten
- zwar bezieht sie sich in ihrem Titel auf Menschenrechte und Menschenwürde,
doch wem diese Würde und Rechte zustehen, bleibt offen
- der Text definiert nicht die Begriffe ,menschliches Wesen' oder
,Person'
- weil es keinen Konsens über diese Begriffe gibt, wird die Definition
den verschiedenen nationalen Gesetzgebungen überlassen
- dahinter steht eine Debatte, die in Deutschland vor allem durch
den australischen Philosophen Peter Singer bekannt geworden ist
- Singer vertritt die Lehrmeinung, dass ein Mensch nicht zugleich
auch eine Person sein muss
- Personen sind ihm zufolge Menschen, die sich selbst realisieren
können, über Bewusstseinsleistungen verfügen, selbstbestimmt
und zukunftsfähig sind
- deshalb sind nicht alle Menschen schon Personen: Hirntote sind
es nicht, Koma-Patienten zum Beispiel auch nicht, Föten und
Embryonen erst recht nicht
- sprachliche Unklarheiten
- im Artikel 1 des Übereinkommens wird noch die Würde "aller
Menschen" als Schutzgegenstand hervorgehoben
- im Artikel 5 sind aus Menschen schon "Betroffene" geworden
- während in Artikel 6 die Diktion erneut gewechselt hat und
von "Personen" die Rede ist
- zugunsten der Konvention ist bestenfalls anzunehmen, dass dahinter
lediglich eine sprachliche Schlamperei, aber kein System steckt. Im
Ergebnis unterscheidet sich dies freilich nicht
- gewollte Selektion:
- der Artikel 7 diskriminiert "Personen mit einer Geisteskrankheit",
weil er diese Gruppe betont hervorhebt und ihr unnötigerweise einen
eigenen Passus widmet, statt sie wie andere Patienten zu behandeln
- die Konvention etabliert ein Zweiklassensystem, da sie zwischen
Einwilligungsfähigen und Nichteinwilligungsfähigen differenziert
- während sich also Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen
Kräfte sind, einem Forschungseingriff widersetzen können,
bleibt dies den sogenannten Nichteinwilligungsfähigen verwehrt
- sie können für ein wie auch immer definiertes höherrangiges
Ziel in Dienst genommen werden
- Widersprüche:
- Artikel 11, der ein Diskriminierungsverbot aufgrund der individuellen
genetischen Ausstattung eines Menschen festschreibt, gerät in Widerspruch
zu den folgenden Bestimmungen
- in Artikel 14 wird zur Vermeidung einer geschlechtsgebundenen
Krankheit, etwa der Hämophilie, Geschlechtsselektion zugelassen
- einwilligungsunfähigen Menschen wird auch bei einer Organentnahme
als Lebendspender die Selbstbestimmung genommen: ihnen darf in Notsituationen
"regenerierbares Gewebe" für enge Verwandte entnommen
werden
- mehrdeutig auslegbare Formulierungen:
- die Belege finden sich im Kleingedruckten: im erläuternden
Bericht zur Konvention
- in den Erläuterungen wird die Zukunft ungeniert ausgemalt:
"Wenn zur Zeit noch hauptsächlich die Transplantation
von Knochenmark unter Geschwistern die Bedingungen dieses Artikels
erfüllt, so wird mit der Formulierung ,regenerierbares Gewebe'
den rasanten Entwicklungen auf dem Transplantationssektor Rechnung
getragen." Mit diesem alles andere als dezenten Hinweis auf
den wissenschaftlichen Fortschritt ist ein Instrument geschaffen
worden, künftig die Entnahme von Organen und Gewebe beliebig
auszudehnen
- auch beim Paragraphen 20 der Konvention fällt ein entscheidender
Widerspruch - oder eine wiederum gewollte Ungenauigkeit - auf: Während
im Text des Artikels nur von regenerierbarem Gewebe wie Knochenmark
die Rede ist, wird in der Überschrift der Geltungsbereich auch
auf Organe ausgedehnt, damit also gleich der Zugriff zum Beispiel auf
Nieren und Teile der Leber vorbereitet
8. Praktische Ethik nach Peter Singer
- Peter Singer ist überzeugt, in seinem Buch „Praktische Ethik",
einen Beitrag zum Leben im Sinne einer Humanisierung des Umgangs mit schwerstbehinderten
Kindern, unheilbar kranken und sterbenden Menschen geleistet zu haben
- Menschen werden als Objekte behandelt ohne am Gespräch beteiligt
zu werden
- Singer bezeichnete seinen Ansatz als modifizierten Utilitarismus bzw.
Präferenzutilitarismus, der jede Handlung für moralisch gut erklärt,
deren Folgen für die Menschheit überwiegend nützlich sind
- Merkmale des Utilitarismus
- primäres Entscheidungskriterium für oder gegen eine
Handlung ist Nützlichkeit
- der aus einer Handlung entstehende Nutzen soll sich auf eine
möglichst große Anzahl, im Idealfall auf alle betroffenen
Menschen beziehen
- im Präferenzutilitarismus tritt an die Stelle der nützlichen
Handlung der Begriff des Interesses, so dass eine Handlung dann als
moralisch gerechtfertigt angesehen wird, wenn durch die die Interessen
sowohl des Einzelnen als auch aller Betroffenen befriedigt werden
- es gehört wesentlich zum Menschen, Interessen zu haben
- es hat nur der ein Recht auf Leben, der dieses Recht auch selbst
vertreten und verteidigen kann
- gemeinsame Ansichten mit der Ideologie des Nationalsozialismus
- Zweckbestimmungen und Interessen sind hinreichend für die ethische
Begründung von Handlungsentscheidungen
- Vermeidung von Schmerz ist Handlungszweck, Zweck wird immer mehr
durch Interessen ersetzt, die nicht von den betroffenen Menschen ausgehen
- gehen von zeitlosem und abstraktem Personbegriff aus: Person ist,
wer gegenwärtig über sich selbst bestimmen kann
- spricht von der ungerechtfertigten Diskriminierung Behinderter, aber
gleichzeitig befürwortet er den Schwangerschaftsabbruch und Infantizid
bei schwerbehinderten Kindern
- Leben ohne Behinderung ist besser als Leben mit Behinderung
- Behinderte nehmen alle vorhandenen Hilfestellungen an, was die Aussage
stützt, dass ein Leben ohne Behinderung vorteilhaft ist
- es gibt einen guten Grund, eher Tiere für Experimente zu verwenden,
als „normale erwachsene Menschen": Vorwissen, Angst, Bewusstsein
- gleiches Argument gilt für die Verwendung von Säuglingen
oder schwer geistig Behinderten
- Unterscheidung zwischen nichtmenschlichen Wesen und Säuglingen/
schwer geistig Behinderten nur dadurch, dass die letzteren zu unserer
Spezies gehören
- es gibt geistig behinderte Menschen, die weniger Anspruch als viele
nichtmenschliche Lebewesen, als selbstbewusst oder autonom zu gelten
- benutzen wir diese Eigenschaften dazu, eine Kluft zwischen Menschen
und anderen empfindungsfähigen Lebewesen aufzureißen, dann
siedeln wir diese Menschen auf der anderen Seite der Kluft an
- Singer verfolgt die Absicht, den Status der Tiere zu heben, nicht aber,
den der Menschen zu senken
- Singer schlägt vor, dem Leben eines Fötus keinen größeren
Wert zuzubilligen als dem Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einer
ähnlichen Stufe der Rationalität, des Selbstbewusstseins, der
Bewusstheit, der Empfindungsfähigkeit usw.
- bis die Fähigkeit, Schmerz zu empfinden vorhanden ist, beendet
ein Schwangerschaftsabbruch eine Existenz, die überhaupt keinen
Wert an sich hat
- nur die aktuellen Eigenschaften des Fötus wurden berücksichtigt,
nicht jedoch seine potentiellen
- Dammbruch-Argument: Standpunkt, dass das Leben eines Fötus (und
natürlich erst recht das eines Embryos) nicht mehr wert ist als das
Leben eines nichtmenschlichen Lebewesens auf einem ähnlichen Stand
der Rationalität, des Selbstbewusstseins, der Bewusstheit, der Fähigkeit
zu fühlen usw. und dass, weil ein Fötus keine Person ist, ein
Fötus nicht den selben Anspruch auf Leben hat wie eine Person
- Argumente lassen sich ebenso auf Neugeborene wie auf Föten
anwenden
- wenn der Fötus nicht denselben Anspruch auf Leben wie eine
Person hat, dann hat ihn das Neugeborene offensichtlich auch nicht
- die Implikationen dieser Auffassung vom Status des neugeborenen
Lebens vertragen sich nicht mit der praktisch unbestrittenen Annahme,
dass das Leben eines neugeborenen Babys ebenso sakrosankt sei, wie das
eines Erwachsenen; manche meinen sogar, das Leben eines Babys sei kostbarer
als das eines Erwachsenen
- das Töten eines Säuglings kann nicht so schlimm sein wie das
Töten eines unschuldigen Erwachsenen
- der Infantizid ist etwas, was seiner Natur nach selbst der ängstlichsten
Phantasie nicht die geringste Beunruhigung verschaffen kann
- sind wir einmal alt genug, um diese Vorgehensweise zu verstehen,
sind wir bereits zu alt, um von ihr bedroht zu werden
- Beispiel Spina bifida
- wenn das Leben eines Kindes so elend sein wird, dass es sich aus
der inneren Perspektive des Wesens, das dieses Leben führen wird,
nicht zu leben lohnt, dann folgt, dass es, sofern keine äußeren
Gründe vorliegen, den Säugling am leben zu erhalten - etwa
die Gefühle der Eltern - besser ist, ihm ohne weiteres Leiden zum
Sterben zu verhelfen
- Beispiel Hämophilie
- Schädigung, die die Lebensaussichten eines Kindes bedeutend
weniger rosig erscheinen lassen als die eines normalen Kindes, aber
nicht so trübe, dass sich das Leben nicht doch zu leben lohnen
würde
- von diesem Leben ist zu erwarten, dass in der Bilanz Glück
über Unglück überwiegen wird; ihn zu töten hieße,
ihn dieser positiven Glücksbilanz zu berauben, und wäre daher
unrecht
- Frage, ob der Tod des hämophilen Säuglings zur Erzeugung
eines anderen Wesens führen würde, das sonst vielleicht nicht
existieren würde, das zweite Kind hätte dann vermutlich ein
besseres Leben als es das getötete gehabt hätte
- weder Hämophilie noch das Down-Syndrom beeinträchtigen das
Leben dermaßen, dass es sich aus der Innenperspektive der Person heraus
nicht mehr lohnt zu leben
- man mag immer noch einwenden, dass es unrecht sei, einen Fötus
oder ein Neugeborenes zu ersetzen, weil dadurch heute lebenden behinderten
suggeriert wird, ihr Leben sei weniger lebenswert als das Leben derer, die
nicht behindert sind
- wer leugnet, dass dieses im Durchschnitt gesehen so ist, verkennt
die Realität
- Menschen im vegetierenden Zustand unterscheiden sich nur unerheblich
von behinderten Säuglingen: sie sind nicht selbstbewusst, rational
oder autonom, und so sind Erwägungen des Rechts auf Leben oder des
Respekts vor der Autonomie hier nicht angebracht
- biologisch leben sie, aber nicht biographisch
- Beispiel Spina bifida - Holter-Klappe
- statt alle Fälle von Spina bifida zu behandeln, sollten nur
die für die Behandlung ausgewählt werden, bei denen der Schaden
in abgeschwächter Form auftritt
- dieses Prinzip der selektiven Behandlung ist heute fast überall
akzeptiert
- praktisch jeder muss anerkennen, dass es unter gravierenden Bedingungen
der einzig humane und moralisch vertretbare Weg ist, einen Säugling
sterben zu lassen
- die Frage ist nun: Wenn es richtig ist, zuzulassen, dass Säuglinge
sterben, warum ist es dann falsch, sie zu töten?
Literatur:
- Eibach, Ulrich (1988): Gentechnik - der Griff nach dem Leben. Eine ethische
und theologische Beurteilung. Wuppertal: Brockhaus
- Grewel, Hans (1988): Brennende Fragen christlicher Ethik. Göttingen,
Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht
- Grewel, Hans (1990): Recht auf Leben. Göttingen, Zürich: Vandenhoeck
& Ruprecht
- Knessel, Jürg (1989): Medizinische Ethik aus heutiger Sicht. Basel,
Boston, Berlin: Birkhäuser
- Müller, Dorothee (1997): Lebenswertes Leben und würdevolles
Sterben. Gießen: Psychosozial-Verlag
- Neumann, Josef (1997): Der Umgang mit dem Behinderten zwischen Ausgrenzung
und der „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens". In: Kleinert,
Stefan u.a. (Hrsg.): Der medizinische Blick auf Behinderung. Würzburg:
Königshausen und Neumann
- Singer, Peter (1994): Praktische Ethik. Stuttgart: Reclam
- Bundesministerium der Justiz (1998): Das Übereinkommen der Menschenrechte
und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und
Medizin - Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin des
Europarats vom 4. April 1997