6. Möglichkeiten der Kombination von

pädagogischer Förderung und

psychopharmakologischer Intervention

Nachdem nun ein ausführlicher Einblick in die Störungsbilder der Hyperaktivität und der Aggression und in mögliche pädagogische Interventionsmaßnahmen gegeben und eine detaillierte Charakterisierung der in Frage kommenden Psychopharmaka vorgenommen wurde, sollen an dieser Stelle einige Überlegungen zur Kombination von Pädagogik und Medikation dargestellt werden.

Vorab sollte aber geklärt werden, ob der Einsatz von Psychopharmaka überhaupt für das Gelingen der pädagogischen Intervention notwendig ist und wenn ja, sollte die Dosis so niedrig wie möglich gehalten werden. Grundsätzlich kann gesagt werden, dass eine Kombination nur dann erfolgreich sein kann, wenn man sich an die Gebote zum Umgang mit Psychopharmaka (siehe Kapitel 5.1) hält.

 

6.1 Multiprofessionalität

Wie bereits mehrmals in dieser Arbeit festgehalten wurde, kann eine Therapie bzw. Intervention nur dann erfolgreich sein, wenn alle Beteiligten konsequent mitarbeiten und wenn die entsprechenden Fachleute die notwendigen Qualifikationen aufweisen. In diesem Unterkapitel soll es nun darum gehen, die Kooperation zwischen den beteiligten Parteien zu beschreiben, die im Vorfeld und während der Intervention ständig ablaufen muss.

 

6.1.1 Kooperation zwischen Eltern und Pädagoge

Eine Kombination von pädagogischer und psychopharmakologischer Intervention kommt immer nur dann in Frage, wenn die Pädagogik alleine keinen Erfolg zeigt. Da eine Pädagogik nur dann wirksam sein kann, wenn sie konsequent verfolgt wird, ist eine Kooperation von Pädagoge und Eltern unumgänglich. Erst wenn sich heraus stellt, dass trotz konsequenter Intervention in der Schule und zu Hause keine Verhaltensbesserung erreicht werden kann, sollten Eltern und Lehrer sich darüber austauschen, ob die Mitarbeit eines Arztes sinnvoll sein kann. In diesem Fall sind zum einen die Einstellung des Schülers selbst und die Einstellung der Eltern entscheidend. Kommt man zu dem Ergebnis, dass ärztliche Intervention abgelehnt wird, so muss weiterhin versucht werden, auf pädagogischem Weg eine Verbesserung der Situation zu erzielen. Stehen aber alle Parteien positiv zu einer eventuellen psychopharmakologischen Behandlung, so sollte ein gemeinsamer Termin bei einem Arzt vereinbart werden.

 

6.1.2 Kooperation zwischen Eltern, Lehrer und Arzt

Eine erfolgreiche Therapie auffälligen Verhaltens setzt eine Kooperation oder zumindest einen Austausch zwischen dem Arzt, dem Lehrer und den Eltern voraus. Ist der Schüler alt genug, an diesem Gespräch teilzunehmen, so sollte auch er die Gelegenheit dazu erhalten.

Beim ersten Zusammentreffen sollte eine Verständigung über das genaue Behinderungsbild des Schülers erfolgen, in dem der Lehrer die in der Schule auffälligen und den Schüler in seinem Lernen behindernden Auffälligkeiten zu beschreiben versucht und auch die Eltern ihre individuellen Einstellungen und Ansichten hierzu äußern. Anschließend sollten dem Arzt die bisher erfolglos oder nur kurzfristig wirksamen pädagogischen Interventionen dargestellt werden, damit dieser die Gelegenheit bekommt, sich selbst eine Vorstellung über den Schüler und seine Problematik zu bilden.

Aufgrund dieser Schilderungen und der Anamnese, die der Arzt daraufhin erstellen wird, kann dieser letztlich seine Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise äußern. Hält er eine medikamentöse Therapie für überflüssig oder kontraindiziert, so wird er dieses erklären können und den Eltern bzw. dem Lehrer Hinweise auf alternative Möglichkeiten geben können. Fällt jedoch die Entscheidung zugunsten einer psychopharmakologischen Behandlung des Kindes, so sollte zuerst das Medikament sorgfältig ausgewählt werden. Dieses übernimmt sicherlich der Mediziner, bevor er dann die Eltern und den Lehrer und selbstverständlich auch den Schüler, soweit dieser in der Lage ist, die Informationen zu verstehen, über die Wirkungsweise, die möglichen Neben- und Wechselwirkungen aufklärt. Es ist wichtig, dass alle beteiligten Parteien kundig sind, damit eine genaue Beobachtung des Schülers gewährleistet ist, um Nebenwirkungen und Komplikationen frühzeitig zu erkennen. Auf diesem Weg kann auch die minimale aber optimal wirkende Dosis schnell ermittelt werden.

Nur auf dem Weg der Multiprofessionalität kann eine möglichst erfolgversprechende Interventionsform entwickelt werden, die alle Beteiligten einschließt.

An dieser Stelle soll noch kurz darauf hingewiesen werden, dass auch Therapeuten, sofern sie mit dem Kind arbeiten, in die Intervention und die Gespräche integriert werden müssen, damit die Konsequenz aller pädagogischen und medizinischen Handlungen gesichert ist.

 

6.2 Chancen und Gefahren einer Kombination von Pädagogik und Psychopharmaka

In diesem Kapitel gehe ich auf die möglichen positiven und negativen Auswirkungen einer kombinierten Intervention ein.

Die in der Literatur am häufigsten angeführte Begründung für eine psychopharmakologische Behandlung von Kindern mit Verhaltensstörungen ist die, dass sie dadurch erst für andere Interventionen empfänglich werden. Wird ein hyperaktiver Schüler mit einem leicht sedierenden Medikament therapiert, so besteht zum Beispiel in der Schule die Möglichkeit, den ruhigen Schüler besser zu fördern. Daraus resultierende positive Effekte auf der Seite des Schülers sind eine kognitive Leistungssteigerung, die Möglichkeit zum Aufbau sozialer Kontakte und die Entwicklung eines positiven Selbstbildes, da nicht ständig Ermahnungen gegen ihn ausgesprochen werden müssen. Ein weiterer positiver Aspekt ist die bessere Einstellung des Lehrers dem betroffenen Schüler gegenüber. Da der Pädagoge erkennt, dass seine pädagogischen Interventionen angenommen werden und Änderungen im Verhalten des Schülers bewirken, erhält er die Motivation zur weiteren intensiven Beschäftigung mit dem Schüler (positives Feedback).

Dementsprechend müssen aber auch die möglichen Gefahren in diesem Zusammenhang beachtet werden. Neben dem Missbrauch der Medikamente über den Indikationsbereich hinaus und einer unangepassten Dosierung bestehen häufig Einschränkungen durch Nebenwirkungen der Psychopharmaka. Auf Seiten der Lehrer und Eltern existiert das Risiko von Fehleinschätzungen, da sie aufgrund der Unterdrückung der Symptome durch das Medikament zu der Annahme verleitet werden, dass die Verhaltensauffälligkeit nicht mehr besteht und somit auf eine zusätzliche pädagogische Intervention verzichten. Darüber hinaus kann eine zu starke Sedierung des Kindes zu einem weiterem Leistungsabfall und somit zu einer zusätzlichen Einschränkung des Schülers führen. Die Gefahr, dass der Schüler aufgrund einer Medikamenteneinnahme während der SCHULZeit in eine Außenseiterposition gelangt, ist, aufgrund dessen, dass viele Menschen mit geistiger Behinderung Pharmaka zu den unterschiedlichsten Indikationen einnehmen müssen, dagegen eher als gering einzustufen.

Man kann anhand dieser Auflistung deutlich erkennen, dass eine kombinierte Intervention nach sorgfältiger Auswahl und nach Einhaltung der Gebote zum Umgang mit Psychopharmaka (vgl. Kapitel 5.1) bei entsprechender Indikation mehr Chancen als Gefahren bietet und somit durchaus empfehlenswert scheint.

 

6.3 Fallbeispiele

Um dieser Arbeit zum Schluss hin noch einige praktische Beispiele anzufügen, möchte ich eine kurze Beschreibung zweier Kinder mit geistiger Behinderung geben, die ich in meinem Blockpraktikum in der Schule für Geistigbehinderte in Iserlohn kennen lernte. Im Anschluss an die Schilderung der Verhaltensauffälligkeiten und der daraus resultierenden Problematik werde ich versuchen, anhand der "Pädagogischen Hilfen für den Unterricht mit geistig behinderten und verhaltensauffälligen Schülern" nach THEUNISSEN (1997, 193 ff.) Vorschläge zum Umgang mit diesen Kindern zu formulieren. Es muss jedoch beachtet werden, dass in den 4 Wochen des Blockpraktikums keine vollständige Anamnese gestellt werden konnte, da auch nur ein Elternkontakt am Elternsprechtag stattfand. Trotzdem möchte ich, anhand dieser Beispiele versuchen, die theoretischen Hintergründe, die in dieser Arbeit dargestellt wurden, zur praktischen Anwendung zu bringen.

Es soll nun noch darauf hingewiesen sein, dass die Namen zum Schutze der Person geändert wurden.

 

6.3.1 Fallbeispiel Tom

Tom ist ein 9-jähriger Junge mit einer mittelschweren geistigen Behinderung und der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung. Sein Verhalten zeichnet sich durch hohe Aktivität aus, wobei es auch des öfteren zu fremdverletzenden und nicht vorsätzlichen selbstverletzenden Verhaltensweisen kommt. Darüber hinaus ist er ein sehr aufgeweckter und neugieriger Junge, der permanent Fragen zu seiner Umwelt stellt, aber aufgrund einer sehr geringen Aufmerksamkeitsspanne die Antworten meist nicht abwartet. Zum Schutz seiner eigenen Person und zum Schutz anderer ist es oftmals notwendig, ihn mittels Time-Out aus der Gruppe auszuschließen, was wiederum Trotzreaktion auf seiner Seite hervorruft. Solches Trotzverhalten zeigt Tom auch, wenn er aufgrund seines überaktiven Verhaltens von anderen Kindern oder Betreuern zurechtgewiesen wird. Dieses Verhalten fällt meist stark provozierend und konfliktauslösend aus und eskaliert teilweise in fremdaggressivem Verhalten.

Dementsprechend stört Tom auch die unterrichtliche Situation, indem er auf einfache verbale Ansprache nicht oder wie oben beschrieben reagiert und somit häufig Kriseninterventionsmaßnahmen notwendig macht.

Auch sein Lernverhalten ist deutlich durch die Aufmerksamkeitsstörungen und die motorische Unruhe gekennzeichnet, denn er kann sich nur über einen sehr kurzen Zeitraum konzentrieren. Bei schwierigeren Aufgaben ist seine Motivationsspanne ebenfalls sehr gering, so dass er diese selten ausreichend bearbeitet.

Im lebenspraktischen Bereich ist Tom sehr eigensinnig und versucht, alles alleine zu bewältigen. Vor allem hauswirtschaftliche Tätigkeiten erledigt er sehr gerne, steht jedoch durch seine Überaktivität häufig vor Frustrationserlebnissen, wenn er beim Abtrocknen oder beim Tisch decken Geschirr fallen lässt.

Aus den Berichten der Mutter (sie ist alleinerziehend) ist zu entnehmen, dass sie auch zu Hause große Probleme im Umgang mit Tom hat. Sie suchte aus diesem Grund bereits mehrmals einen Arzt auf, der Tom zuerst eine medikamentöse Therapie auf der Grundlage von Lavendel-Tropfen und später auf der Grundlage von Baldrian verschrieb. Beide therapeutischen Ansätze hatten jedoch keine Auswirkungen auf das auffällige Verhalten.

Anhand dieser Beschreibung soll nun ein Versuch unternommen werden, eine Kurzdiagnose zu erstellen und unterrichtsverändernde Maßnahmen zu planen.

Die Verhaltensweisen, die in der schulischen Situation als sehr störend empfunden werden, sind das fremdaggressive Verhalten, die Provokation der Mitschüler und Betreuer und die extremen Störungen zu den Essenszeiten, in denen der Junge umher läuft, in das Essen spuckt und Geschirr zertrümmert.

Stellt man dagegen Überlegungen zur möglichen Funktion der Verhaltensweisen an, so deutet alles darauf hin, dass der Junge durch die Provokationen und das aggressive Verhalten versucht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und somit Zuwendung zu erhalten. Die Ruhelosigkeit hängt mit seiner Hyperaktivität zusammen und kann somit nicht ohne weiteres behoben werden. Das Zertrümmern von Geschirr dagegen kann eventuell durch vorangegangene Frustrationserlebnisse (z.B. beim Tischdecken), wie sie in der vorangegangenen Beschreibung dargestellt wurden, ausgelöst worden sein.

Die Stärken des Jungen liegen vor allem in seiner großen Neugierde, die ihn dazu veranlasst, nach allem zu fragen, was er in seiner Umgebung wahrnimmt. In diesem Zusammenhang kann davon ausgegangen werden, dass er trotz der fehlenden Aufmerksamkeit vieles durch Fragen außerhalb des Unterrichts lernt (sofern er der Antwort der Frage folgt). Abgesehen von seiner Eigeninitiative im Bezug auf das Erlernen neuer Dinge, ist Tom sehr leicht zu begeistern, wenn ihm ein Thema auf die richtige Art und Weise nahegebracht wird. Darüber hinaus ist Tom in jeder Situation sehr hilfsbereit. Vor allem wenn es um hauswirtschaftliche Tätigkeiten geht, hilft er gerne mit und freut sich, wenn er Aufgaben alleine durchführen darf. Aber auch im Umgang mit seinen Mitschülern ist er stets bereit, mitzuhelfen, wenn es ein Problem gibt. Seine Impulsivität und seine kurze Aufmerksamkeitsspanne stehen ihm dabei zwar häufig im Weg, doch trotzdem ist er bei seinen Mitschülern äußerst beliebt.

Der nächste Schritt nach THEUNISSEN ist nun die Überprüfung der Strukturelemente des Unterrichts im Hinblick auf die Stärken und Schwächen des Schülers (vgl. THEUNISSEN 1997, 198). Die Vorschläge zur Vorgehensweise werden nun kurz dargestellt.

Intention:
Die Intention des Unterrichts sollte etwas stärker auf soziale Lerninhalte verlagert werden, kann jedoch ansonsten die üblichen Ziele verfolgen, da Tom unter optimalen Bedingungen in der Lage ist, jede Intention mit zu verfolgen.

Thematik:
Die Thematik sollte an Toms Fähigkeiten und Stärken anknüpfen, daher könnten z.B. Elemente der lebenspraktischen Erziehung oder des sozialen Lernens (z.B. Hilfsbereitschaft, Umgang miteinander) ausgewählt werden.

Kommunikation:
Der Unterricht sollte entsprechend so durchgeführt werden, dass Tom viele Erfolgserlebnisse hat und somit vorwiegend positive Rückmeldung (wie Lob und Anerkennung statt Ermahnung und Zurechtweisung) vom Pädagogen erhält.

präventive/ spezielle Intervention:
Das verwendete Situationsmanagement (vgl. Kapitel 2.2.3) muss verändert werden, so dass das Ignorieren von provozierenden Verhaltensweisen, die direkte Ansprache Toms, Wiedergutmachung und eventuell die Symptomverschreibung (z.B. „Du bist jetzt wütend, weil dir wieder ein Teller heruntergefallen ist, deshalb schlage einige Male auf den Sandsack ein! Dann geht es Dir sicher besser!") anstelle von Bewegungseinschränkungen, Time-Out und Strafe treten.

zeitliche Aufteilung:
Um Tom die Möglichkeit zu geben, sich während der Arbeitsphasen zu konzentrieren, sollten diese kurz gehalten und immer wieder von kurzen Entspannungs- und Tobe-Phasen abgelöst werden. Dadurch können auch durch Unaufmerksamkeit verursachte Frustrationserlebnisse verhindert werden.

Sozialformen:
Die Sozialformen sollten variieren, damit Tom die Möglichkeit bekommt, alleine zu zeigen, dass er etwas schafft, darüber hinaus aber auch in einer Partner- oder Gruppenarbeit kooperatives Verhalten lernt.

Verfahrensweisen:
Die unterrichtlichen Verfahrensweisen erreichen Tom am besten, wenn sie häufig differieren. Unternehmungen im Freien gestalten sich aufgrund seines starken Bewegungsdrangs als schwierig, erweisen sich jedoch vor allem im Hinblick auf die Weckung seiner Neugierde und seines Interesses als äußerst nützlich. Ebenfalls empfehlenswert sind Bewegungsspiele, wenn sie dosiert eingesetzt werden und nicht in ein Chaos ausufern, sowie Entspannungsübungen.

Medieneinsatz:
An Medien und Materialien im Unterricht werden keine großen Anforderungen gestellt. Sie sollten Aufforderungscharakter haben und die Schüler neugierig machen, damit eine zeitweise Beschäftigung damit möglich wird.

räumliche Situation:
Der Klassenraum sollte (evtl. neu) strukturiert werden, so dass eindeutige Grenzen zwischen bestimmten Funktionszonen deutlich werden. Demnach sollten ein "Lernbereich", ein "Entspannungbereich", ein "Spielbereich" und ein "Essensbereich" abgegrenzt werden. Die Sitzordnung während des Unterrichts sollte so verändert werden, dass Tom einen Platz erhält, an dem er kaum ablenkenden Reizen ausgesetzt ist. Eventuell ist es ebenfalls hilfreich, ihn in die Nähe eines Schülers zu setzen, der als Vorbild fungieren kann.

Didaktik:
Der Lernstoff sollte so ausgewählt werden, dass er die Lebenswelt des Schülers betrifft und diesen anspricht. Es sollte beachtet werden, dass der hyperaktive Schüler vor allem über das handelnde Lernen (Aktivierungsprinzip) erreicht werden kann.

Sollte nach mehrmonatiger Unterrichtung des Schülers unter diesen veränderten Maßnahmen keine Besserung des Verhaltens und des Lernens des Schülers zu verzeichnen sein, sollten Vorbereitungen für eine spezielle Einzelhilfe (vgl. THEUNISSEN 1997, 200) getroffen werden.

In diesem Zusammenhang muss zuerst durch Pädagogen, Eltern und Bezugspersonen eine Verstehens-Diagnose erstellt werden. Zusätzlich zur Diskrimination der Stärken und Schwächen des Schülers, die schon bei der Kurzdiagnose durchgeführt wurde, werden hierbei unter anderem die Lebensgeschichte, der Gesundheitszustand und das aktuelle Entwicklungsniveau berücksichtigt. Daraus werden daran anschließend die weiteren Interventionen abgeleitet, mit Hilfe derer das auffällige Verhalten abgebaut werden soll.

Obwohl ich an dieser Stelle keine solche Verstehens-Diagnose leisten kann, werde ich trotzdem einige Maßnahmen vorschlagen, die sich meines Ermessens zur Behandlung seiner Verhaltensproblematik eignen.

Zuerst würde ich den Eltern aufgrund der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung vorschlagen, den Arzt (am besten einen Neuropädiater) aufzusuchen, der das Syndrom bei Tom diagnostiziert hat. Dieser soll darüber befinden, ob eine medikamentöse Therapie der Hyperaktivität (z.B. mit Ritalin®)über die bisherige Behandlung hinaus bei Tom angemessen und sinnvoll erscheint. Meines Ermessens kann durch eine Behandlung mit Psychostimulanzien ein Ansatzpunkt geschaffen werden, auch seine aggressiven Ausbrüche zu behandeln und abzubauen.

Hinsichtlich des pädagogischen Umgangs sollte generell auf eine Verstärkung des aggressiven Verhaltens verzichtet werden. MEINER Meinung nach kann durch ein Ignorieren der Aggressionen (selbstverständlich unter Berücksichtigung des Sicherheitsaspekts) und eine positive Verstärkung des „normalen" Verhaltens prinzipiell eine Verhaltensänderung erreicht werden. Dementsprechend sollten die Eltern und der Lehrer darauf achten, dass Tom in den problemfreien Phasen wesentlich mehr Zuwendung erfährt als in Situationen, die durch das Problemverhalten gekennzeichnet sind. Auch auf Strafverfahren sollte vollkommen verzichtet werden, da die Aggressionen letztlich kein absichtliches Verhalten des Schülers darstellen, sondern eine Folge von Frustrationserlebnissen. Statt dessen kann in Krisensituationen, die nicht ignoriert werden können, auf ein kurzfristiges körperliches Festhalten des Schülers zurückgegriffen werden.

Als langfristige Intervention im Rahmen der kognitiven Verhaltenstherapie sollte der Versuch der Selbstinstruktion gestartet werden. In diesem Zusammenhang soll Tom hinsichtlich seiner aggressiven Ausbrüche lernen, Konfliktsituationen zu bewältigen. Nach DÖPFNER/ SCHÜRMANN/FRÖLICH kann diese Maßnahme auch zu einem langsamen Abbau des hyperaktiven Verhaltens führen (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/FRÖLICH 1997, 41 f.), so dass dieses Training auf zwei Ebenen gleichzeitig durchgeführt werden kann.

Innerhalb des Gruppenunterrichts sollten zusätzlich Entspannungsübungen zum Tagesablauf gehören. Ein abwechslungsreicher Schultag enthält diese Entspannung ebenso, wie das konzentrierte Lernen und Möglichkeiten der körperlichen Bewegung. Für Tom speziell bietet sich eine imaginative Entspannungsform an, wie z.B. die Kapitän Nemo-Geschichten (siehe Anhang), da damit seine natürliche Neugier ausgenutzt werden kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass er daran viel Freude hat und sich gleichzeitig darauf einlässt, ohne die anderen Kinder zu stören oder die Entspannungsübung zu unterbrechen.

Darüber hinaus können Elemente des "Trainingsprogramms für überaktive Kinder in der Schule" von KROWATSCHEK in die Förderung Toms innerhalb des Klassenverbands übernommen werden. Ich empfehle z.B. die Experimente 2, 4, 7 und 23 (siehe Anhang), da sie im Wesentlichen die Förderung der Selbstakzeptanz und des Erkennens eigener und fremder Gefühle anstreben.

In Experiment 2, in dem die Schüler vier Aspekte ihrer Persönlichkeit durch Malen zum Ausdruck bringen sollen (etwas, was ich gerne mache; etwas, was ich nicht gerne mache; etwas Besonderes an mir; etwas, was ich gut kann), werden sie dazu aufgefordert, sich mit ihrer eigenen Person auseinander zu setzen. Schüler, wie Tom, die häufig durch Frustrationserlebnisse an ihren Fähigkeiten und Qualitäten zweifeln, können in dieser Übung erkennen, dass sie nicht schlechter sind als ihre Mitschüler. Manchmal kann es bei dieser Übung notwendig sein, dass der Lehrer einem Schüler hilft, wenn dieser Schwierigkeiten hat, einen der Aspekte zu erfüllen.

In Experiment 4 geht es darum, Gefühle zu erkennen. Zuerst werden die Namen von Gefühlen zu Fotos zugeordnet, so dass die Schüler anhand von Mimik, oder Körperhaltung Gefühlslagen differenzieren lernen. Speziell für Tom ist es von großer Bedeutung, zu erkennen, wie sich die Mitschüler, die unter seinen Aggressionen leiden müssen, fühlen. Auch eigene Gefühle werden angesprochen, wenn die Schüler aufgefordert werden, zu den unterschiedlichen Empfindungen Beispiele aus dem eigenen Leben zu erzählen.

Auch Experiment 7 bezieht sich auf die Gefühle von Menschen. Nachdem die Begriffe Glück, Trauer, Ärger und Wut geklärt und Fotos zugeordnet worden sind, sollen die Schüler zu geschilderten Situationen die entsprechende Emotionen assoziieren. Diese Übung hat dementsprechend die gleichen positiven Effekte auf Toms Verhalten wie das vorhergehende Experiment.

Das Experiment 23 dient dagegen alleine dem Aufbau eines positiven Selbstbilds und somit der Förderung der Selbstakzeptanz. Indem jeder Schüler versucht, sich eine Eigenschaft zu erwerben, die er seines Ermessens nicht hat, wird er dazu gebracht, besonders positive Charakteristika zu nennen, um sie als Bezahlung zu verwenden. Bei Tom ist die Durchführung dieser Übung trotz seiner geistigen Behinderung möglich, jedoch muss dieses auch bei seinen Klassenkameraden vorher überprüft werden. Wahrscheinlich bietet sich dieses Experiment in einer Teilgruppe der Klasse eher an.

Über die unterrichtsbezogenen Interventionsformen hinaus bieten sich meines Ermessens für Tom auch Einzelsitzungen mit einem Pädagogen an, der vielleicht Elemente des Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten (THOP) nach DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH anwendet. Als Beispiele hierfür dienen die im Anhang angeführte Spaß & Spiel-Zeit und der Punkte-Plan in Form der Punkte-Schlange.

In der Spaß & Spiel-Zeit bekommt der Schüler die Möglichkeit, uneingeschränkt die Zuwendung und Aufmerksamkeit des Lehrers zu spüren. Für Tom wäre das sehr wichtig, da er bisher vor allem in unangenehmen Situationen ein so zentriertes Interesse an seiner Person erfährt. Somit kann sein Selbstwertgefühl gesteigert werden, was sich wieder positiv auf sein Verhalten in der Klasse auswirkt.

Die Führung eines Punkte-Plans dient der positiven Verstärkung von problemfreien Phasen. Der Schüler überlegt gemeinsam mit dem Lehrer eine Belohnung, die der Schüler nach Erhalt einer bestimmten Anzahl von sogenannten Token erhält. Token werden z.B. dafür vergeben, dass eine Unterrichtsstunde lang kein aggressives Verhalten geäußert wurde. Die Token können in Form eines Aufklebers (z.B. Smiley) ausgehändigt werden, die der Schüler anschließend auf seine Punkte-Schlange klebt. Ist das Ende der Schlange erreicht, wird die Belohnung gegeben. Auch bei Tom lässt sich auf diesem Weg sicher der Abbau von aggressiven Ausbrüchen unterstützen, es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass die Zeiträume, für die Token vergeben werden, immer größer werden (z.B. zu Beginn pro störungsfreier Unterrichtsstunde ein Token, später pro störungsfreiem Schultag ein Token, ...) und dass der jeweilige Vertrag sich zu Beginn nur auf eine auffällige Verhaltensweise bezieht.

Anhand dieser Überlegungen zur pädagogischen Förderung Toms kann meines Ermessens eine Verhaltensänderung erzielt werden, wenn die Kontinuität der Maßnahmen sichergestellt ist. Über die unterrichtlichen und medizinischen Interventionsformen hinaus kann sicherlich auch eine psychotherapeutische Behandlung ihren Beitrag zum Abbau auffälligen Verhaltens leisten. In diesem Zusammenhang sollte aber unbedingt beachtet werden, dass zusätzliche, außerschulische Therapien nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmen, damit das Kind die Möglichkeit der Erholung und des Spielens zu Hause erhält. Sicherlich kann eine Überforderung eines Schülers, der gegen Nachmittag aus der Schule kommt und dann zu Therapien wie z.B. Krankengymnastik, Psychotherapie, Ergotherapie, Schwimmen, Hippotherapie, Heilpädagogik, Autismus-Ambulanz, Logopädie, Musiktherapie o.ä. gefahren wird, im Hinblick auf den Abbau von Verhaltensstörungen kaum einen Beitrag leisten. Das soll nicht bedeuten, dass ich Therapien grundsätzlich ablehne, ich warne eindringlich vor der Überforderung, der sogenannten "Übertherapierung" der Kinder.

 

6.3.2 Fallbeispiel Marlene

Marlene ist ein 6-jähriges Mädchen mit einer geistigen Behinderung und autistischen Zügen. Sie zeigt sehr häufig stereotype Autoaggressionen, indem sie wiederholt ihren Kopf gegen eine Wand stößt, sich selbst mit der Hand ins Gesicht schlägt und sich in den rechten Handrücken beißt. Ansonsten zieht sie sich aufgrund ihrer autistischen Verhaltensweisen stark zurück und tritt kaum mit ihren Klassenkameraden oder dem Lehrer in Kontakt, wenn es sich vermeiden lässt. Sehr gerne sitzt sie im hinteren Bereich des Klassenraums unter einem Tisch an der Wand, wo sie das Kopfschlagen praktiziert.

Marlene hat keine Möglichkeiten , sich verbal auszudrücken und greift daher auf bestimmte Gesten zurück, wenn sie etwas haben möchte oder ihr etwas widerstrebt. Fühlt sie sich überfordert oder unverstanden in Bezug auf ihre Gesten, so fängt sie laut an zu schreien und beißt sich in die rechte Hand, auf deren Rücken sich bereits eine dicke Hornhaut gebildet hat.

Das Mädchen nimmt an der unterrichtlichen Situation kaum teil, da sie häufig unter dem Tisch sitzt und auf Aufforderungen, hervor zu kommen, nicht reagiert. Versucht man, sie gegen ihren Willen hervor zu ziehen, so reagiert sie wie eben beschreiben, mit autoaggressiven Bissen in die Hand.

Im lebenspraktischen Bereich versucht Marlene, alles selbst zu verrichten, wohl auch da sie kaum Möglichkeiten hat, bestimmte Wünsche zu äußern. Hat sie z.B. Durst, so geht sie selber an den Schrank, um sich ein Glas zu holen und zieht eine andere Person nur dann hinzu, wenn sie nicht heranreichen kann oder sie kein Glas findet.

Marlenes Eltern berichteten am Elternsprechtag, dass sie zu Hause die Festhaltetherapie praktizieren, wenn Marlene einen Wutanfall bekommt und sich beißt. Darauf reagiere sie aber kaum, wenn sie sich beruhigt hat und die Mutter sie wieder loslässt, versteckt sie sich und beginnt wieder mit stereotypem Kopfschlagen. Die Quantität dieser „Anfälle" habe in dem halben Jahr, in dem sie die Festhaltetherapie bisher durchgeführt haben, jedoch nicht abgenommen.

Mittlerweile sind die Eltern überzeugt, dass eine medikamentöse Therapie einsetzen muss, um das Kind etwas ruhiger werden zu lassen, damit sie nicht ständig Angst haben müssen, dass Marlene sich verletzt.

Neben der Schule besuchen die Eltern seit zwei Monaten mit dem Kind die Autismus-Ambulanz, in der versucht wird, mit Marlene die gestützte Kommunikation zu erlernen. Da die Therapie jedoch noch im Anfangsstadium steht, konnten noch keine deutlichen Fortschritte erzielt werden. Gleichzeitig erhält Marlene 1-mal pro Woche eine Stunde Hippotherapie, die ihr sichtlich sehr viel Spaß macht, so dass während dieser Zeit normalerweise keine autoaggressiven Handlungen auftreten.

Da Marlene bisher am Unterricht kaum bzw. nicht aktiv teilnimmt, kann man auf die Erstellung einer Kurzdiagnose und die Planung unterrichtsverändernder Maßnahmen verzichten. Es ist deutlich, dass eine spezielle Einzelhilfe einsetzen muss, um eine Verhaltensänderung zu erzielen.

Auf den Wunsch der Eltern nach einer medikamentösen Therapie würde ich als Pädagoge raten, einen Arzt aufzusuchen (am besten einen Neuropädiater), der sie bei der Entscheidung und der anschließenden Therapie unterstützen kann. Darüber hinaus würde ich zuerst einen Versuch mit einem pflanzlichen Produkt, wie z.B. Baldrian oder Lavendel, empfehlen, das das Kind leicht sediert und somit pädagogische Intervention möglich machen kann. Sollten diese Medikamente in ihrer Wirkung jedoch zu schwach sein, um Marlene einer Pädagogik zugänglich zu machen, kann überlegt werden, sie gegen ein Neuroleptikum wie z.B. Taxilan® auszutauschen.

Bevor jedoch ein solcher Schritt unternommen wird, sollte eine weitere Form des Kommunikationstrainings angesetzt werden. Es empfiehlt sich hierzu z.B. die Basale Kommunikation® nach MALL (siehe Kapitel 4.2.8), die neben der Gestützten Kommunikation durchgeführt werden kann. Während die Gestützte Kommunikation erst nach sehr langer Therapiezeit so ausgereift ist, dass eine Kommunikation möglich wird, kann über die Basale Kommunikation® wesentlich schneller ein kommunikativer Akt produziert werden. Ich gehe davon aus, dass Marlene sich auch anderen gegenüber öffnen wird, wenn sie das Gefühl erhält, dass sich jemand für sie interessiert und den ernstgemeinten Versuch unternimmt, mit ihr und vor allem auf ihrer Ebene zu kommunizieren. Man sollte sich vorab auf nur eine bestimmte Person, aus dem unmittelbaren Beziehungsgefüge des Kindes einigen, die sich ihm auf diese Art und Weise nähert, um Marlene nicht zu ängstigen oder überfordern. In der Regel wird die Mutter oder der Vater diese Aufgabe nach vorheriger Schulung in dieser Methode übernehmen. Nur in dem Fall, dass diese sich nicht dazu bereit erklären oder dazu in der Lage fühlen, sollte ein geschulter Pädagoge die Therapie übernehmen.

Hinsichtlich des Managements für Krisensituationen sollten einige Regeln festgesetzt werden, an die sich Eltern, Betreuer und Pädagogen gleichermaßen halten sollten.

Meines Ermessens ist es wichtig, Marlene während ihrer Anfälle nicht zu ignorieren, aber auch nicht zu bedrängen. Es sollte schon versucht werden, durch leises Zusprechen eine Beruhigung des Mädchens zu erreichen, doch halte ich ein Festhalten nicht für die beste Alternative. Sicherlich muss eine körperliche Fixierung im Notfall gewährleistet sein, doch generell halte ich diese Intervention bei Menschen mit autistischen Zügen für unangebracht.

Während Marlene sich ihrer stereotypen Beschäftigung unter dem Tisch widmet, sollte regelmäßig eine Ansprache des Mädchens, jedoch keine Bedrängung erfolgen.

Die Möglichkeit einer Unterbrechung des autoaggressiven Verhaltens durch ein plötzliches Signal sollte ebenfalls erprobt und bei Erfolg weiterhin praktiziert werden.

Um die Verletzungsgefahr zu verringern und somit die Notwendigkeit körperlichen Eingreifens zu verhindern, könnte an der Stelle, an der Marlene den Kopf gegen die Wand schlägt, eine Matte oder Polsterung angebracht werden. Zusätzlich kann überlegt werden, ob das Tragen von Handschuhen, die den Biss in die Hand unmöglich macht, sinnvoll ist. Es ist zwar zu befürchten, dass Marlene diesen präventiven Maßnahmen entgeht, indem sie sich einen anderen Sitzplatz sucht, sich in die andere Hand beißt oder zu anderen autoaggressiven Verhaltensweisen übergeht, doch ein Versuch sollte trotzdem unternommen werden.

Gerade stereotype Handlungen bieten sich an, um ein Umlenken der Bewegungen anzustreben. Bei Menschen mit autistischen Zügen ist es aber meistens nicht möglich, dass sich der Pädagoge nähert und dem Kind die Hand führt, da dieses es in der Regel nicht zulassen wird. Es besteht jedoch die Möglichkeit, diese Maßnahme innerhalb der basalen Kommunikation® langsam einzuführen. Nachdem Marlene und der Pädagoge einen bestimmten Level an Kommunikation erreicht haben, kann ein erster Körperkontakt aufgebaut und darin eventuell eine Umlenkung vorgenommen werden. Marlenes Schlagen in das eigene Gesicht, kann somit vielleicht in eine Streichel-Bewegung umgewandelt werden.

Verbote und Strafen sind in diesem Fall Interventionsmethoden, die keine Wirkung oder eine gegenteilige (Überforderungssituation) erzeugen werden. Da davon ausgegangen werden kann, dass Marlenes autoaggressive Handlungen eine Folge der fehlenden Möglichkeiten zur Kommunikation sind, verstärkt sich das Verhalten durch Bestrafung erst recht, da Marlene sich unverstanden fühlt und keine Möglichkeit hat, sich auf anderem Weg verständlich zu machen.

MEINER Einschätzung nach müsste die Summe dieser Maßnahmen eine Verhaltensänderung bei dem Mädchen erreichen können. Der wichtigste Aspekt ist sicher das Kommunikationstraining, andererseits kann auch die psychopharmakologische Behandlung notwendig sein, um einen Erfolg verzeichnen zu können. Auf jeden Fall besteht durch die Kombination beider Interventionsformen, die Möglichkeit, Marlene bei der Lösung ihrer Probleme zu unterstützen.