5. Psychopharmakologische Intervention

In diesem Kapitel möchte ich nun zuerst auf die allgemeine psychopharmakologische Intervention eingehen, bevor ich mich mit der Anwendung bei Kindern mit einer geistigen Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten beschäftige.

 

5.1 Grundlagen der Psychopharmakotherapie

In diesem Kapitel beziehe ich mich auf eine Aufstellung von Geboten zum Umgang mit Psychopharmaka, die sowohl LAUX (vgl. LAUX 1995, 774) und MÖLLER (vgl. MÖLLER 1995, 479) als auch LINGG und THEUNISSEN (vgl. LINGG/ THEUNISSEN 1997, 169 f.) in ihre Ausführungen integrieren und die als Basis für jede psychopharmakologische Therapie gelten müssen.

Psychopharmaka sollten demnach nur im Fall einer speziellen Indikation und nach einer sorgfältigen Untersuchung und Diagnostik innerhalb eines Gesamtbehandlungsplans, der auch andere Therapieformen berücksichtigt, verordnet werden. Des weiteren müssen bisherige medikamentöse Therapien und eine mögliche Suchtanamnese genau beachtet werden. Daran anschließend kann ein Psychopharmakon anhand seines Wirkungsspektrums ausgewählt werden, wobei jedoch sowohl Wechsel- und Nebenwirkungen als auch Kontraindikationen berücksichtigt werden müssen. Über diese möglichen Wirkungen sollten der Patient und auch die Bezugspersonen aufgeklärt werden, bevor das Medikament verabreicht wird. Der Arzt sollte auch bei Ausschluss möglicher Wechselwirkungen eine langfristige Gabe von mehreren Psychopharmaka unbedingt vermeiden. Die Dosierung des Arzneimittels erfolgt in der Regel einschleichend und wird dann individuell angepasst. Bei Psychopharmaka der Tranquilizer- bzw. Hypnotikagruppe sollte auf eine möglichst niedrige, aber ausreichende Dosierung geachtet werden, die so früh wie möglich langsam wieder reduziert wird. Während der gesamten Therapie sollte die Beobachtung durch den Arzt in Form von Verlaufskontrollen gewährleistet sein, so dass gleichzeitig eine tragfähige Beziehung zwischen Arzt und Patient entstehen kann. Im Fall einer Langzeittherapie mit Psychopharmaka sollte zusätzlich ein Facharzt hinzugezogen werden, der auch eine spezielle Aufklärung des Patienten über mögliche Langzeitnebenwirkungen vornehmen kann. Wird die psychopharmakologische Therapie beendet, muss die Dosisreduktion ausschleichend, also auf keinen Fall abrupt, erfolgen (vgl. LAUX 1995, 774; LINGG/ THEUNISSEN 1997, 169 f.; MÖLLER 1995, 479).

 

5.2 Einteilung und Wirkungsweisen der Psychopharmaka

„Als Psychopharmaka werden alle Substanzen bezeichnet, [die in die Regulation zentralnervöser Funktionen eingreifen, und] für die zweifelsfrei ein psychotroper (auf seelische Abläufe einwirkender) Effekt nachgewiesen ist. Dieser beruht entweder auf der Wirkung des Pharmakons selber oder auf der seiner Metaboliten (Stoffwechselprodukte)." (LAUX 1995, S.751)

In diesem Kapitel werden die verschiedenen Psychopharmaka mit ihren Anwendungsgebieten, Wirkungsweisen und möglichen Nebenwirkungen vorgestellt. Um den Rahmen dieser Arbeit einzuhalten, kann jedoch keine umfassende Beschreibung aller existierenden Formen von Psychopharmaka gegeben werden, weshalb eine Beschränkung auf die Medikamente, die auch bei hyperaktiven und aggressiven Kindern angewendet werden, vorgenommen wurde. Dieses sind die Psychostimulanzien, Antidepressiva, Neuroleptika, Hypnotika, Tranquilizer, Nootropika und ebenso pflanzliche Psychopharmaka. Der Vollständigkeit halber soll jedoch erwähnt werden, dass in der Regel auch Antiepileptika, Phasenprophylaktika (z.B. Lithiumsalze), Clomethiazol, Cyproteron, Disulfiram und Anti-Parkinsonmittel zu den gebräuchlichen Psychopharmaka gezählt werden (vgl. LAUX 1995, 751-775).

Da bei hyperaktiven und/ oder aggressiven Kindern vorwiegend erregungsdämpfende Medikamente eingesetzt werden, sind die Thymeretika in diesem Personenkreis nicht in Gebrauch. Psychostimulanzien nehmen aufgrund ihrer Paradoxwirkung bei Kindern und Jugendlichen eine Sonderrolle ein, die aber in Kapitel 5.5.1 näher beschrieben wird.

 

5.2.1 Antidepressiva

Antidepressiva (auch: Thymoleptika) sind "antriebssteigernd und stimmungsaufhellend bzw. anxiolytisch und antriebsdämpfend wirkende Psychopharmaka, die vor allem in der Therapie der endogenen und psychogenen Depression Verwendung finden (...)" (vgl. PSCHYREMBEL 1994, 79).

Es gibt verschiedene Unterteilungen der sehr heterogenen Gruppe der Antidepressiva, von denen an dieser Stelle zwei angeführt werden sollen. Die erste ist die Unterteilung anhand der chemischen Struktur. Daraus ergeben sich vier Klassen: die trizyklischen und die tetrazyklischen Antidepressiva (z.B. Laroxyl®, Saroten®, Aponal®, Tofranil®, Ludomil®) sowie die Monoaminooxydasehemmer (z.B. Aurorix®) und die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (vgl. TÖLLE 1996, 247). Die trizyklischen Antidepressiva werden heute am häufigsten verschrieben, was daran liegt, dass sie ein sehr breites Wirkspektrum haben. Sie hemmen die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin (Neurotransmitterstoffe im Gehirn) in die Vesikel. Die tetrazyklischen Antidepressiva unterscheiden sich von den trizyklischen nur in ihrer chemischen Struktur und nicht in der Wirkungsweise. Die Gruppe der Monoaminooxydasehemmer führt durch Hemmung eines Typs der Monooxydase zu einer Erhöhung der Noradrenalin- und Serotonin-Konzentration im Gehirn, was sich angstlösend und stimmungsaufhellend auswirkt. Diese Medikamente sind heute allerdings kaum noch in Gebrauch. Eine Indikation besteht erst, wenn die trizyklischen Antidepressiva versagen. Die letzte Form der Antidepressiva bilden die Selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Sie haben seltener Nebenwirkungen, die zudem nicht so schwerwiegend sind wie die der Trizyklika. Aufgrund dessen kann man einen Anstieg der Verschreibungshäufigkeit dieser Medikamente verzeichnen, die zu der trizyklischer Antidepressiva umgekehrt proportional verläuft.

Da eine weitere Möglichkeit der Einteilung in der Literatur häufig vertreten ist, soll sie an dieser Stelle ebenfalls angeführt werden. Diese ist das Drei-Komponenten-Schema, das die Antidepressiva anhand ihrer drei Hauptwirkungskomponenten charakterisiert. Diese sind einmal die depressionslösende stimmungsaufhellende, dann die psychomotorisch-aktivierende und antriebssteigernde sowie zuletzt die psychomotorisch-dämpfende und sedierend-angstlösende Wirkung (vgl. LAUX 1995, 763).

Die Anwendungsgebiete für Antidepressiva sind vor allem endogene Depressionen, schwere Angst- und Zwangsneurosen und Melancholien, aber auch Antriebsarmut, Enuresis diurna und nocturna, Enkopresis, Pavor nocturnus, das hyperkinetische Syndrom, Schulphobien, Trennungsängste und Somnambulismus bei Kindern (vgl. REISER 1996, 42).

Ein Problem in der Anwendung von Antidepressiva besteht in den gravierenden Nebenwirkungen, die mit einer Wahrscheinlichkeit zwischen 1,5 bis 9 % auftreten.

In der nachfolgenden Tabelle werden die Nebenwirkungen aller Formen von Antidepressiva angeführt, wobei die Angaben aus der Literatur zusammengefasst wurden.

Tabelle 3: Nebenwirkungen von Antidepressiva

zu Beginn der Behandlung

  • Suizidgefahr bei depressiven Patienten (weil in der Regel der antriebssteigernde Effekt vor dem stimmungsaufhellenden eintritt)

vegetative Nebenwirkungen

neurologische Nebenwirkungen

endokrine Nebenwirkungen

  • Gewichtszunahme
  • Herabsetzung des Libido und der Potenz
  • Amenorrhöe
  • Störung der Schilddrüsenfunktion

kardiovaskuläre Nebenwirkungen

psychische Nebenwirkungen

  • Unruhe
  • Aktivierung suizidaler Impulse
  • Müdigkeit
  • Schlafstörungen
  • Sedierung bis zur Benommenheit
  • selten: Provokation schizophrenieähnlicher produktiver Symptome, Umkippen in Manie, Verwirrtheitszustände, Delir

dermatologisch-allergische Nebenwirkungen

(vgl. LAUX 1995, 765; REISER 1996, 42 f.; HARING 1995, 319 ff.; TÖLLE 1996, 352)

 

5.2.2 Neuroleptika

"Unter dem Begriff Neuroleptika (...) werden Psychopharmaka zusammengefasst, die sich durch ein charakteristisches Wirkspektrum auf die Symptome psychotischer Erkrankungen auszeichnen." (LAUX 1995, 768).

Die chemische Wirkungsweise beruht auf der Blockade prä- und postsynaptischer Dopaminrezeptoren (Dopamin = Neurotransmitter im Gehirn).

Eine Einteilung der Neuroleptika ist anhand ihrer chemischen Struktur möglich. Man unterscheidet die Phenotiazine, die Thioxanthene, die Butyrophenone, die Diphenylbutylpiperidine, die Dipenzepine und die Benzamide und erhält somit 6 Gruppen (vgl. LAUX 1995, 768). Des weiteren lassen sich die Neuroleptika durch ihre neuroleptische Potenz charakterisieren.

Die neuroleptische Potenz definiert sich durch das Erreichen der neuroleptischen Schwelle, die in dem Moment überschritten wird, wenn extrapyramidal-motorische Störungen als Nebenwirkungen auftreten. Wird diese Schwelle sehr früh erreicht, spricht man von ihm als einem niedrigpotenten, wird die Schwelle erst später erreicht, spricht man von einem hochpotenten Neuroleptikum. Während sich hochpotente Neuroleptika (z.B. Haldol®, Benperidol®, Fluxanol®) durch eine starke antipsychotische Wirkung, eine leichte Sedierung, starke extrapyramidal-motorische und geringe vegetative Nebenwirkungen auszeichnen, findet man bei mittel- (z.B. Ciatyl®, Psyquil®) und niedrigpotenten Neuroleptika (z.B. Melleril®, Truxal®, Atosil®, Neurocil®) eine schwache antipsychotische Wirkung, eine stärkere Sedierung, ausgeprägte vegetative und weniger extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen (vgl. GAEDT 1997, 295 f.).

Anhand der zu Beginn gegebenen Definition lässt sich die Hauptzielgruppe, dieser Psychopharmaka leicht erkennen: Psychosen vieler Art. REISER geht genauer auf die Anwendungsgebiete dieser Medikamente ein und nennt wahnhaft-halluzinatorische Psychosen, Psychosen mit unproduktiver Symptomatik, frühkindlichen Autismus, schizophrene Psychosen, psychotische Zustände infolge einer Drogenabhängigkeit, unspezifische Verhaltensstörungen, Stottern, Hyperaktivität als Folge frühkindlicher Hirnschädigung, Tics und das Tourette-Syndrom (vgl. REISER 1996, 43). LAUX erweitert den Indikationsbereich noch, indem er zusätzlich aus dem psychiatrischen Bereich Manie, Erregungszustände, organische Psychosyndrome, Alterspsychosen, Delirien und Zwangssyndrome, aus dem neurologischen Bereich Schmerzsyndrome und aus der Anästhesie die Neuroleptanalgesie, die Prämedikation und postoperatives Erbrechen anführt (vgl. LAUX 1995, 770). Außerdem kann die Wirkung der Neuroleptika auch gegen Ejaculatio praecox und sexuelle Derivationen, sowie aggressive Verhaltensweisen und Schlafstörungen eingesetzt werden.

Anhand des breiten Anwendungsspektrums lässt sich leicht erahnen, dass auch eine Vielzahl von Nebenwirkungen auftreten kann. Aufgrund unvollständiger Angaben innerhalb der Literatur sind an dieser Stelle die angeführten Nebenwirkungen von REISER (1996, 43), LAUX (1995, 771 f.), HARING (1995, 311 ff.) und GAEDT (1997, 304 f.) zusammengetragen.

Tabelle 4: Nebenwirkungen von Neuroleptika

Motorik

Nervensystem

innere Organe

Sinnesorgane

Psyche

  • Müdigkeit, Dysphorie, Apathie, Verlangsamung, Abstumpfung, Lethargie
  • Einschränkung der Konzentrationsfähigkeit
  • Depression, Suizidalität
  • Supersensivitätspsychose
  • Unruhe, Erregung
  • Schwindel, Kopfschmerzen

Stoffwechsel

  • Störungen des Glukosestoffwechsels
  • Steigerung des Appetits, Gewichtszunahme

sonstiges

  • Paradoxreaktionen

besonders gefährliche Nebenwirkungen

  • malignes neuroleptisches Syndrom (mit Fieber, Bewusstseinsstörung, vegetativen Störungen, extrapyramidaler Muskelstarre, Stoffwechselstörungen, Rigor, Akinesie, Tachypnoe und starkem Schwitzen)
    • Achtung: Lebensgefahr!!
  • Agranulozytose (mit den Hauptsymptomen Schüttelfrost, hohes Fieber, (Mund-) Schleimhautnekrosen
    • Achtung: Lebensgefahr!!

Ein positiver Aspekt der Therapie mit Neuroleptika ist, dass deren Wirkungen keine Gewöhnung zeigen und keine Suchtentwicklung provozieren. Des weiteren ist zu verzeichnen, dass intellektuelle Funktionen und die Bewusstseinslage in der Regel weitgehend erhalten bleiben.

Es besteht die Möglichkeit, eine Neuroleptikabehandlung über Depotpräparate durchzuführen, was den Vorteil der sicheren Einnahme und gleichzeitig der besseren Akzeptanz durch die Patienten hat. Die Gefahr der Kumulation einer Wirkstoffe im Körper besteht nicht, da diese schnell wieder ausgeschieden werden.

 

5.2.3 Hypnotika/ Sedativa

Unter Hypnotika versteht man im allgemeinen die große Gruppe der Schlafmittel, während Sedativa vorwiegend tagsüber eingenommen werden. Der Übergang zwischen diesen beiden Psychopharmaka ist fließend, so dass sie hier kurz zusammen beschrieben werden.

Für die Gruppe der Hypnotika existieren wieder verschiedene Klassifikationssysteme, von denen an dieser Stelle jedoch nur eins stellvertretend dargestellt wird. LAUX unterscheidet drei Klassen der Schlafmittel, zuerst die sogenannten klassischen Schlafmittel (u.a. Barbiturate), dann die Psychopharmaka im engeren Sinne (u.a. Benzodiazepine) und außerdem sonstige Hypnotika (u.a. pflanzliche Sedativa) (vgl. LAUX 1995, 761).

Aufgrund der großen Gefahr der Abhängigkeitsentwicklung beim Einsatz von Barbituraten, spielen diese in der heutigen Verordnungspraxis, abgesehen von seltener Anwendung bei epileptischen Krampfanfällen, kaum mehr eine Rolle (vgl. LOHSE/ MÜLLER-OERLINGHAUSEN 1996a, 256). Die Gruppe der Benzodiazepine dagegen ist das Mittel der ersten Wahl. Da diese Stoffgruppe auch als Tranquilizer eingesetzt werden kann und da die Übergänge zwischen diesen beiden Arzneimittelgruppen fließend sind, gilt vieles aus Kapitel 5.2.4 ebenfalls an dieser Stelle.

Zur Wirkungsweise kann gesagt werden, dass eine niedrige Dosis an Schlafmitteln sedierend wirkt, eine mittlere Dosis zum Schlaf führt, aus dem der Betroffene jederzeit erweckt werden kann und eine hohe Dosis zur Narkose, aus der ein Wecken nicht jederzeit möglich ist. Eine überhöhte Dosis kann ein Koma, aber auch den Tod des Patienten bedeuten.

Die Anwendungsgebiete der Hypnotika und Sedativa sind vorwiegend Schlafstörungen jeder Art, aber ebenfalls psychovegetative Dysregulationen, kardiovaskuläre Beschwerden, kindliche Verhaltensstörungen, nervöse Erschöpfung, Unruhe und Reizbarkeit, Gedächtnisschwäche, Konzentrationsmangel, Hyperaktivität und neurovegetative Störungen.

Vergleicht man die Nebenwirkungen von Barbituraten mit denen der beiden anderen Gruppen der Hypnotika, dann erkennt man den Grund für die Bevorzugung der letzteren. Während beim Einsatz der Barbiturate die Beeinflussung vegetativer Funktionen wie Leber, Atmung und Kreislauf, die akute intermittierende Porphyrie, Neutropenie, Thrombopenie, Parästhesie, Hyperreflexie, Hypermotorik, myoklonische Krämpfe, Paradoxreaktionen und schnelle Toleranzentwicklung auftreten können, sind die möglichen Nebenwirkungen der anderen Hypnotika wesentlich harmloser. So beschränken sich die Nebenwirkungen der Benzodiazepin-Hypnotika auf Störungen der vegetativen Funktionen, Hypotonie der Muskeln und Venenreizungen. Es muss jedoch das Abhängigkeits- und Missbrauchspotential beachtet werden, das beim Einsatz von Schlafmitteln generell besteht.

 

5.2.4 Tranquilizer

"Unter dem Begriff Tranquilizer [...] werden Psychopharmaka zusammengefasst, die zur Behandlung von Angst- und Spannungszuständen verwendet werden." (vgl. LAUX 1995, 756) Sie haben in der Regel eine beruhigende und emotional entspannende Wirkung, aber keinen schlafanstoßenden, antipsychotischen oder depressionslösenden Effekt. Des weiteren wirken sie antiaggressiv, amnestisch, antikonvulsiv, muskelrelaxierend und antiseptisch.

Während REISER die Gruppe der Tranquilizer in die Benzodiazepine (z.B. Lendormin®, Tavor®, Diazepam®, Valiquid®) und die Beta-Rezeptorenblocker unterteilt (vgl., 1996, 44f.), charakterisiert LAUX fünf Subtypen anhand ihrer chemischen Struktur. Er unterscheidet die Benzodiazepin-Tranquilizer, Non-Benzodiazepin-Tranquilizer, niedrigdosierte Neuroleptika, Beta-Rezeptorenblocker und Phytopharmaka, wie Baldrian und Hopfen (vgl. LAUX 1995, 757). Die meistverordneten Tranquilizer sind heute die der Benzodiazepin-Gruppe.

Obwohl die Behandlung von Angstzuständen das Hauptziel der Tranquilizer-Therapie ist, gibt es noch viele weitere Indikationen, hierbei vor allem Verhaltensstörungen, Asthma bronchiale, Essstörungen, Schlafstörungen, Enuresis, Pavor nocturnus, Migräneprophylaxe, cerebrale Krampfanfälle und muskuläre Verspannungszustände (vgl. REISER 1996, 44). Man verwendet sie ebenfalls in der Anästhesiologie zur Prämedikation, in der Geburtshilfe zur Relaxation und in der Inneren Medizin zur Ruhigstellung.

Es existiert eine Reihe von Nebenwirkungen, jedoch treten diese nur sehr selten und bei relativer Überdosierung auf.

Tabelle 5: Nebenwirkungen von Tranquilizern

Haut

  • allergische Hautreaktionen

Muskeln und Skelett

  • allgemeine Muskelschwäche (auch Doppelbilder durch Beeinträchtigung der Augenmuskeln)
  • Ataxie

Gastrointestinaltrakt

  • Übelkeit
  • Magen-Darm-Beschwerden
  • Appetit- und Gewichtszunahme

Herz, Kreislauf

Nervensystem

  • Müdigkeit, Benommenheit
  • Konzentrationsminderung, Gedächtnisstörungen
  • Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit
  • Schwindel
  • Kopfschmerzen
  • cerebrale Krampfanfälle
  • Schlafstörungen

Psyche

  • Realitätsflucht
  • psychische Abhängigkeit

sonstiges

  • Artikulationsstörungen, Dysarthrie
  • Wahrnehmungsbeeinträchtigung
  • ungünstige Beeinflussung von Entwicklungsvorgängen
  • Paradoxwirkungen

bei Langzeiteinnahme

  • Persönlichkeitswandel
  • dysphorisch-depressive Verstimmung
  • Suchtgefahr

nach abruptem Absetzen

Aufgrund des hohen Missbrauchs- und Abhängigkeitspotentials sollten Tranquilizer nur kurzfristig und keinesfalls länger als drei Monate eingenommen werden. Außerdem sollte die Verordnung möglichst niedrig bei dennoch ausreichender Dosierung erfolgen.

 

5.2.5 Psychostimulanzien

Als Psychostimulanzien bezeichnet man die Psychopharmaka, die eine anregende, antriebssteigernde und hemmungslösende Wirkung haben. Sie erzeugen in hohen DOSEN euphorische Stimmungen bei Patienten. Für diese Gruppe der Psychopharmaka ist kennzeichnend, dass sie bei Kindern und Jugendlichen in der Regel eine gegensätzliche, also beruhigende Wirkung zeigen.

Eine Unterteilung der Psychostimulanzien in die Gruppe der Amphetamine und der Nicht-Amphetamine ist üblich, wobei die Amphetamine, die seit Ende der 70er Jahre unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, den Großteil der Verordnungen ausmachen.

Anwendungsgebiete der Stimulanzien sind das hyperkinetische Syndrom, Narkolepsie und Hypersomnie. Diese gegensätzlichen Indikationen erklären sich aus der paradoxen Wirkung der Medikamente bei Kindern und Jugendlichen (vgl. REISER 1996, 41).

Die Nebenwirkungen werden in einer Tabelle dargestellt.

Tabelle 6: Nebenwirkungen von Psychostimulanzien

Haut

Muskel und Skelett

Nervensystem

  • Erhöhung der Krampfbereitschaft
  • Schlafstörungen
  • psychomotorische Erregungszustände (Unruhe, Übererregbarkeit, Aggressivität)
  • Müdigkeit, Traurigkeit, Ängstlichkeit, Weinerlichkeit
  • Hypersensitivitätsphänomene (Kribbelgefühl), orofaziale Dyskinesien
  • Konzentrationsmangel, Angst, Verfolgungsideen, Geräuschempfindlichkeit, vermehrtes Träumen
  • psychotische Reaktionen paranoid halluzinatorischer Art (besonders bei Patienten mit cerebraler Vorschädigung)
  • schizophrene Psychosen
  • Angstzustände
  • Auslösung von Tics und Verhaltensstereotypien
  • Kopfschmerzen
  • Tremor
  • Abnahme von Spontaneität und der sozialen Kontakte
  • psychische Abhängigkeit, Entzugssymptome

Augen

Geschmack

  • unangenehmer Geschmack

Gastrointestinaltrakt

Herz, Kreislauf

Blut

Gehirn

  • Gehirnblutungen mit Dauerfolgeschäden oder tödlichem Ausgang

Urogenitaltrakt

  • Impotenz, Libidostörungen

sonstiges

  • Rebound-Phänomene beim plötzlichen Absetzen: erhöhtes Schlafbedürfnis, Heißhunger, Dysphorie, Depressionen, Kreislaufregulationsstörungen

(vgl. REISER 1996, 41 f.; ROTE LISTE 1997, 264 f.)

Psychostimulanzien führen sehr schnell zu Gewöhnung und Abhängigkeit, was jedoch bei hyperaktiven Kindern noch nie beobachtet wurde.

 

5.2.6 Nootropika

Nootropika sind Arzneimittel mit Wirkung auf das zentrale Nervensystem, die bestimmte Hirnfunktionen verbessern sollen, was auch durch die Steigerung der cerebralen Durchblutung und des Hirnstoffwechsels erreicht werden kann. REISER kritisiert jedoch fehlende Belege über den tatsächlichen therapeutischen Wert der Medikamente (vgl. REISER 1996, 45). Während LAUX den geriatrischen Patienten als Hauptzielgruppe der Nootropika anführt (vgl. LAUX 1995, 772), berichtet REISER außerdem über die Anwendung bei Lernschwierigkeiten, geistigen Entwicklungsstörungen, Verhaltensstörungen, Teilleistungsstörungen und Merkschwächen und bringt damit vor allem Kinder und Menschen mit geistiger Behinderung in den Blickpunkt (vgl. REISER 1996, 45).

Die Nebenwirkungen des Wirkstoffs Piracetam, der in den meisten gebräuchlichen Nootropika vertreten ist, werden in der folgenden Tabelle wiedergegeben.

Tabelle 7: Nebenwirkungen von Nootropika

Nervensystem und Psyche

  • gesteigerte psychomotorische Aktivität, Schlafstörungen, Schlaflosigkeit, Nervosität, Aggressivität, Unruhe
  • depressive Verstimmtheit, Angst
  • Somnolenz
  • Erniedrigung der Krampfschwelle
  • Schwindel
  • bei Kindern: Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, Somnolenz, depressive Verstimmung, erhöhte Erregbarkeit, Angst

Gastrointestinaltrakt

  • gastrointestinale Beschwerden, wie Übelkeit und Erbrechen, Abdominalbeschwerden, Brennen in der Speiseröhre

Elektrolyte, Stoffwechsel, Endokrinum

  • Appetit- und damit auch Gewichtszunahme
  • sexuelle Stimulation, Libidozunahme

Herz, Kreislauf

  • Blutdrucksenkung oder -steigerung

Immunsystem

  • allergische Reaktionen

(vgl. ROTE LISTE 1997, 264 f.)

 

5.2.7 Pflanzliche Psychopharmaka

Im allgemeinen stellen pflanzliche Psychopharmaka eine gute Alternative zu synthetisch hergestellten Medikamenten dar, da sie nicht mit derart schwerwiegenden Nebenwirkungen einhergehen.

Unterschiede zu Synthetika lassen sich aber auch in anderen Bereichen finden, da vor allem Wirkungsstärke und -dauer der Medikamente bei Phytopharmaka deutlich reduziert sind.

Dennoch scheint es, vor allem im Hinblick auf die Vielzahl möglicher Nebenwirkungen synthetischer Psychopharmaka, empfehlenswert, bei Kindern auf pflanzliche Medikamente zurückzugreifen, die außerdem eine wesentlich geringere Suchtgefahr bergen.

Im folgenden werden beispielhaft einige Psycho-Phytopharmaka näher erläutert:

 

a) Baldrian

Der Baldrian (Valeriana officinalis) stammt aus der Familie Valerianaceae (Baldriangewächse) und wurde schon vor langer Zeit als Pflanze mit psychopharmakologischer Wirkung entdeckt. Der für das Medikament genutzte Pflanzenteil ist die Baldrianwurzel, die ätherisches Öl und Expoide als wirksame Inhaltsstoffe beinhaltet.

Anwendungsgebiete des Baldrians sind motorische Unruhezustände und leichte bis mittelschwere nervös bedingte Einschlafstörungen. Der Effekt wird durch die Herabsetzung der Reflexerregbarkeit und die sedative Wirkung auf das Zentrale Nervensystem erreicht. Baldrian hat jedoch keine hypnotisierenden, sondern lediglich schlaffördernde Eigenschaften.

Als Nebenwirkung wird gelegentlich von einer Baldriansucht berichtet.

Es gibt die Möglichkeiten, Baldrian als Tee, in Tropfenform, als Tablette oder als Bad anzuwenden (vgl. BRAUN 1979, 226 f.; SCHLICHER 1995, 19).

 

b) Johanniskraut

Das Johanniskraut (Hypericum perforatum) aus der Familie Guttiferae (Zweikeimblättrige) wurde bereits von den Ärzten der Antike medizinisch genutzt. Im Laufe des Mittelalters entwickelte sich die Vorstellung, dass Johanniskraut ein Zauber- und Hexenkraut ist, mit dessen Hilfe böse Geister und der Teufel ausgetrieben werden können. Heute wird das Medikament, dessen Inhaltsstoffe ätherisches Öl, Gerbstoffe, Hypersoid und Hypericumrot aus den frischen Johanniskrautblüten und dem Johanniskraut gewonnen werden, vorwiegend zur Behandlung von leichten Depressionen eingesetzt. Hierzu eignet es sich aufgrund seiner milden stimmungsstabilisierenden bzw. aufhellenden Wirkung hervorragend. FAUST und BAUMHAUER warnen allerdings davor, Patienten mit mittelschweren bis schweren depressiven Symptomen lediglich Johanniskraut-Präparate zu verschreiben, da dessen Wirkungsstärke für solche Fälle nicht ausreicht. Somit besteht die Möglichkeit, den Patienten durch das Phytopharmakon zu gefährden, anstatt ihm zu helfen. Bei schwereren Formen der Depression sollte auf jeden Fall ein synthetisch hergestelltes Psychopharmakon verordnet werden (vgl. FAUST/ BAUMHAUER 1995, 780).

Aber auch bei anderen psychischen Erkrankungen, bei Migräne, vegetativer Dystonie und sekundärer Anämie findet das Johanniskraut erfolgreich Anwendung. In der kinderärztlichen Praxis verschreibt es der Arzt zusätzlich gegen Enuresis nocturna, Pavor nocturnus, Stottern, nervöse Unruhe und nervöse Erschöpfungszustände. Ein weiterer positiver Effekt des Johanniskrauts ist der, dass es auch gegen larvierte Depressionen hilft, bei denen Befindlichkeitsstörungen, Angstzustände und körperliche Beschwerden im Vordergrund stehen, ohne dass der Patient bemerkt, dass er unter einer Depression leidet.

Zusätzlich gibt es noch die Möglichkeit der äußerlichen Anwendung von Johanniskraut in öliger Form. Anwendungsgebiete sind hierbei Verletzungen, Myalgien und Verbrennungen ersten Grades.

Aufgrund des Hypericumrots, das in Johanniskraut-Präparaten enthalten ist, besteht die Möglichkeit einer Photosensibilisierung der Haut des Patienten. Bei Anwendung der Fertigpräparate ist diese jedoch meist nicht zu befürchten (vgl. BRAUN 1979, 120 f.; SCHLICHER 1995, 26 f.).

 

c) Lavendel

Der Lavendel (Lavendula angustifolia) gehört zur Familie der Labitatae (Lippenblütler) und kann, ebenso wie das Johanniskraut, äußerlich und innerlich angewendet werden. Der für das Medikament genutzte Pflanzenteil sind die Lavendelblüten, die als wirksamen Inhaltsstoff ätherisches Öl beinhalten. Dieses Öl hat einen signifikanten sedierenden Effekt und wird deshalb innerlich gegen Befindungsstörungen wie Unruhezustände und Einschlafstörungen angewendet. Zusätzlich hat der Lavendel eine gallentreibende Wirkung, weshalb das Medikament auch gegen funktionelle Oberbauchbeschwerden eingesetzt werden kann.

Die äußerliche Anwendung erfolgt in der Regel als Bad zur Behandlung von funktionellen Kreislaufstörungen.

Darreichungsformen des Lavendels sind getrocknete Blüten, Tropfen, ätherisches Lavendelöl und Badezusatz.

Wird der Lavendel in einer Überdosierung eingenommen, kann das ätherische Öl eine Somnolenz hervorrufen (vgl. BRAUN 1979, 128 f.; SCHLICHER 1995, 25 f.).

 

d) Passionsblume

Die Passionsblume (Passiflora incarnata) gehört zur Familie der Passifloraceae (Passionsblumengewächse). Die für die sedative Wirkung und den lähmenden Effekt auf die glatte Muskulatur verantwortlichen Inhaltsstoffe Flavonoide, Harmanalkaloide und ätherisches Öl werden aus dem Passionsblumenkraut gewonnen.

Das Medikament wird vor allem bei leichten bis mittelschweren Schlafstörungen und als Tagessedativum bei nervösen Unruhezuständen angewendet.

Es ist darauf zu achten, dass ein Passionsblumen-Präparat nicht mehr als 0,01 % Harmanalkaloide beinhaltet, da diese in zu großer Dosis zentralnervöse Erregungszustände und Halluzinationen auslösen können.

Ein Kombinationspräparat aus Passionsblumenkraut, Baldrianwurzel und Hopfenzapfen hat eine sehr positive Wirkung auf nervös bedingte Einschlafstörungen und Unruhezustände.

Wenn keine Überdosierung der Harmanalkaloide vorliegt, sind keine Nebenwirkungen des Passionsblumenkrauts bekannt (vgl. BRAUN 1979, 158; SCHLICHER 1995, 25).

 

e) Rauschpfeffer

Der Rauschpfeffer (Piper methysticum) stammt aus der Familie der Piperaceae (Pfeffergewächse). Die Bewohner Ozeaniens stellen schon seit Jahrhunderten aus dem Wurzelstock des Piper methysticum Forst. (lat. piper = Pfeffer; griech. methysticus = berauschend), einem Strauch, der auf den südpazifischen Inseln heimisch ist, das entspannende und beruhigende Nationalgetränk Kava-Kava her.

Obwohl der Name Rauschpfeffer dieses vermuten lässt, ist die Entspannung, die durch das Getränk hervorgerufen wird, keineswegs mit einem Rauschzustand vergleichbar. Es tritt keine Beeinträchtigung des Bewusstsein ein.

Kava-Kava-Extrakte werden vor allem bei nervösen Angst-, Spannungs- und Unruhezuständen eingesetzt. Die Wirkungsweise ist sehr vielfältig und reicht von der Sedierung über Dämpfung des limbischen Systems, zentrale Muskelentspannung, Spasmolyse, Antikonvulsion, Analgesie und antimykotischen Effekt zur Lokalanästhesie.

Die Wirkung erfolgt dadurch, dass die Inhaltsstoffe des Rauschpfeffers mit den Rezeptoren eines sehr wichtigen Neurotransmitters im Zentralen Nervensystem (Gamma-Amino-Butter-Säure; kurz: GABA) reagieren und sich somit die Anzahl der GABS-Bindungsstellen deutlich erhöht. Dieses trifft besonders für den Bereich des Corpus amygdaloideum (Mandelkern) zu, einem Kern des Großhirns und Teil des limbischen Systems, der an der Innenseite des Schläfenlappens an der Spitze des Unterhorns des Seitenventrikels liegt und als besonderes Zentrum für Stimmungen und Gefühle wie Angst und Furcht gilt.

Anwendungsformen sind Fertigpräparate, die geringe Mengen Rauschpfeffer enthalten und das Kava-Kava-Getränk, das aber in Deutschland in der Regel nicht verschrieben wird.

Bei längerdauernder und hochdosierter Einnahme kann es zu einer vorübergehenden Gelbfärbung der Haut kommen und bei häufiger Aufnahme des Kava-Kava-Getränks besteht Suchtgefahr (vgl. BRAUN 1979, 170 f.; SCHLICHER 1995, 27 f.).

 

5.3 Verschreibungspraxis und -häufigkeit von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen

Insgesamt gestaltet es sich sehr schwierig, genaue Daten über die Verschreibungshäufigkeit und den Konsum von Psychopharmaka speziell bei Kindern und Jugendlichen zu erhalten. REISER führt dieses vor allem auf die hohe Dunkelziffer der Selbstmedikation zurück, da bekannt ist, dass Eltern oft die ihnen verordneten Medikamente (nicht nur Psychopharmaka) auch an ihre Kinder weitergeben (vgl. REISER 1996, 38). Diesen Sachverhalt leitet sie aus einer Studie von Voss mit dem Titel „Kinder und Medikamente" ab. In dieser Untersuchung fand man heraus, dass sich der Medikamentenkonsum von Kindern zu drei Vierteln aus verordneten und zu einem Viertel aus Selbstmedikation zusammensetzt (vgl. REISER 1996, 38 nach Voss 1989a).

Im Jahr 1985 untersuchten ELLIGER und NISSEN in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen den Psychopharmakakonsum bei Kindern. Sie fanden heraus, dass Kinder im Alter bis zu 15 Jahren 1985 2,5 % der gesamten Psychopharmaka- und 1,6 % der gesamten Hypnotika-Verordnungen erhielten (ELLIGER/ NISSEN 1989, B-2697 ff.). Insgesamt entfielen auf sie jedoch lediglich 0,8 % des gesamten TagesDOSENvolumens und auf das gesamte Jahr gerechnet erhielten maximal 2 bis 4 % aller Kinder "[...] eine psychopharmakologische Therapie im eigentlichen Sinn [...]" (ELLIGER/ NISSEN 1989, B-2700).

Auch im Arzneiverordnungs-Report von 1996 kann der Verbrauch bestimmter Arzneimittel bei Schulkindern abgelesen werden. So erhielten Kinder im Alter von 5 bis 6 Jahren 0,2 und Kinder im Alter von 10 bis 14 Jahren 0,1 definierte TagesDOSEN Hypnotika/ Sedativa. Der Gebrauch von Psychopharmaka dagegen liegt mit 0,5 definierten TagesDOSEN in beiden Altersgruppen geringfügig höher (vgl. KLAUBER/ SCHRÖDER/ SELKE 1996, 500 f.).

MEINS untersuchte 1989 den Psychopharmakakonsum bei 459 Schulkindern mit geistiger Behinderung mittels einer Fragebogenaktion innerhalb von Sonderschulen. Das Ergebnis war, dass von den Schülern im Alter von 6 bis 13 Jahren 18,3 % Antiepileptika und 3,3 % Psychopharmaka einnahmen. Innerhalb der zweiten Altersstufe, nämlich der 14- bis 22-jährigen Jugendlichen, erhielten 14,5 % Antiepileptika und 3,4 % Psychopharmaka. Insgesamt stellte die Untersuchung heraus, dass in der Gruppe der Psychopharmaka am häufigsten Neuroleptika, dann Tranquilizer und an dritter Stelle Psychostimulanzien verordnet wurden. Auch die Indikationen für den Psychopharmakakonsum wurden von den Lehrern erfragt. Bei 46 % der Schüler wurde aggressives Verhalten, bei 23 % Hyperaktivität, bei 23 % selbstverletzendes Verhalten, bei weiteren 23 % Stereotypien, bei 15 % psychotisches Verhalten und bei 31 % sonstige Verhaltensweisen als Grund für die Einnahme von Psychopharmaka angegeben (vgl. MEINS 1991, 15-18).

Man kann demnach davon ausgehen, dass die Rate der Kinder, die Psychopharmaka einnehmen, nicht extrem überhöht ist, wie REISER in ihren Ausführungen anklingen lässt. Es bleibt jedoch die Frage, in wie vielen Fällen der Einsatz von Psychopharmaka sinnvoll ist und wo er lediglich zur Arbeitserleichterung der Bezugspersonen beiträgt. Darüber können allgemein keine Angaben gemacht werden.

Eine weitere interessante Untersuchung stellte MEINER 1989 an, der den ärztlichen Anteil der Verschreibungen von Psychopharmaka bei Kindern herausstellte. Demnach wird bei Kindern im Alter von 6 bis 11 Jahren der Großteil durch den Pädiater (46 bis 59 %) und den Allgemeinarzt (37 bis 42 %) verordnet. Der Internist verschreibt lediglich 3 bis 7 % und der Psychiater bzw. Neurologe nur 1 bis 5 % der Psychopharmaka. Der Pädiater wird mit steigendem Alter zunehmend durch den Allgemeinarzt verdrängt, man erkennt jedoch auch deutlich, dass die zuletzt genannten Fachärzte lediglich eine unbedeutende Rolle in der Verschreibungspraxis von Psychopharmaka spielen (vgl. MEINER 1989, B-1470).

Trotz der allgemein geringen Zahl der Kinder, die Psychopharmaka einnehmen, wäre es doch wünschenswert, dass diese durch einen kompetenten Facharzt behandelt werden. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Pädiater die ausreichende Kompetenz auf diesem Gebiet haben, was REISER jedoch in ihren Ausführungen weitgehend ausschließt (REISER 1996, 38).

 

5.4 Psychopharmakologische Therapie bei Menschen mit geistiger Behinderung

Nachdem bisher eine eingehende Betrachtung der Psychopharmaka vorgenommen wurde, soll an dieser Stelle auf die besonderen Bedingungen der psychopharmakologischen Behandlung von Menschen mit geistiger Behinderung eingegangen werden. Generell ist gegen die Anwendung der Medikamente bei dieser Personengruppe nichts einzuwenden, sofern eine umfangreiche Diagnostik durchgeführt wurde, ein Psychopharmakon dementsprechend sorgfältig ausgewählt wurde und eine ständige therapiebegleitende Beobachtung durch den Facharzt und die Bezugspersonen gewährleistet wird. Im Folgenden soll auf grundlegende Bedingungen eingegangen werden, die vor, während und nach einer psychopharmakologischen Therapie unbedingt beachtet werden müssen.

Die erste Besonderheit bei Menschen mit geistiger Behinderung ist die diagnostische Unschärfe. Da viele von ihnen nicht die kommunikativen Möglichkeiten haben, um Gefühle und Probleme auszudrücken, ist die Abgrenzung von krankhaften zu nicht krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten äußerst schwierig. Die Diagnostik erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen den Betreuungspersonen, die den Patienten sehr gut kennen, und dem Mediziner, der Erfahrung im Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung haben sollte.

Des weiteren weist GAEDT auf die Gefahr hin, dass die Indikationsliste für Psychopharmaka auch "[...] auf nicht krankheitsbedingte störende Verhaltensweisen ausgedehnt [...]" (GAEDT 1997, 289) wird und der betroffenen Person anstelle von verbesserter pädagogischer Förderung psychopharmakologische Maßnahmen zuteil werden. Diese beseitigen in dem Fall jedoch nicht die Ursache einer Verhaltensauffälligkeit, sondern lediglich die Symptome und können das Individuum zusätzlich noch kommunikations- und handlungsunfähig machen. Auch die Gefahr des Missbrauchs der Psychopharmaka als Mittel zur Disziplinierung von Individuen muss auf jeden Fall berücksichtigt werden.

Aufgrund der Lebensweise vieler Menschen mit geistiger Behinderung (z.B. im Heim oder einer Wohngemeinschaft), sind diese oftmals gezwungen, mit anderen Menschen auf engem Raum zusammen zu leben. Es besteht selten ein ausreichender Raum für Rückzugsmöglichkeiten, so dass sich Spannungen und Stimmungen der Bezugspersonen leicht auf eine Person übertragen lassen. Während sich die Betreuung gesunder Kinder mit zunehmendem Alter reduziert, wird diese bei Kindern mit einer geistigen Behinderung beibehalten und verstärkt sich teilweise noch. Diese ständige Beobachtung durch ihre Bezugspersonen kann schon in jüngeren Jahren als eine Belastungssituation empfunden werden und die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten fördern.

GAEDT nennt Personen, die als Folge von Spannungen innerhalb ihres nahen Lebensumfelds Verhaltensauffälligkeiten äußern, "Symptomträger" (GAEDT 1997, 289). In einem solchen Fall, in dem die Lebensumstände „krank" sind und nicht der Patient, ist eine psychopharmakologische Therapie absolut unangebracht und behindert die betroffene Person. Eine Familientherapie ist in diesen Situationen wesentlich produktiver, um das auffällige Verhalten abzubauen.

Das Gleiche gilt für den Fall, dass die Verhaltensstörung eine Nachahmung darstellt. Oftmals benutzen Bewohner, die erkennen, dass ein Mitbewohner aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeit wesentlich mehr Zuwendung erfährt, eben dieses Verhalten, um sich ebenso in den Mittelpunkt zu bringen. Auch dann ist eine Psychotherapie und eine Neuordnung des Lebensumfelds anzustreben und keine Psychopharmakotherapie.

Die Auswahl eines Medikaments gestaltet sich bei Menschen mit geistiger Behinderung, die oftmals auch andere Gesundheitsprobleme haben, ebenfalls etwas schwierig. Es müssen alle möglichen Neben- und Wechselwirkungen der Psychopharmaka vorher beachtet werden, um der Person weitere Gefahren und Komplikationen zu ersparen. Die der geistigen Behinderung zugrunde liegenden hirnorganischen Störungen und die Wirkung der Medikamente stehen unter wechselseitigem Einfluss.

Es ist allgemein bekannt, dass Menschen mit geistiger Behinderung eine höhere Empfindlichkeit für Nebenwirkungen aufweisen. Es ist also wünschenswert, ein möglichst nebenwirkungsarmes Medikament auszuwählen, das trotzdem seine Wirkung auf die Probleme des Betroffenen entfaltet.

Treten trotzdem Nebenwirkungen auf, müssen Arzt und Bezugspersonen erreichbar sein, da der Mensch mit geistiger Behinderung oft nicht in der Lage ist, eine genaue Selbstbeobachtung zu leisten, bzw. adäquat auf Nebenwirkungen zu reagieren. Eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten können die Äußerung von aufgetretenen Nebenwirkungen be- oder verhindern, so dass eine genaue Beobachtung der Person ständig gewährleistet sein muss (vgl. GAEDT 1997, 288 ff.).

Im Folgenden werden einige Nebenwirkungen von Psychopharmaka aufgegriffen, die für den Menschen mit geistiger Behinderung besondere Probleme darstellen können.

Obstipation und Miktionsstörungen

Viele Menschen mit geistiger Behinderung haben z.B. aufgrund ihrer Wohnverhältnisse nur wenig oder keine Intimsphäre. Störungen der Ausscheidung bedeuten für diese Menschen, dass noch umfangreichere pflegerische Hilfe notwendig ist und somit ein weiteres Eindringen in die Intimsphäre erfolgt. Ist das Verhalten, gegen das die psychopharmakologische Therapie eingeleitet wurde, eine Reaktion auf mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, so kann dieses zu einer Verstärkung des Problemverhaltens führen.

Sedierung

Eine Sedierung von Menschen mit geistiger Behinderung, die bis zur Benommenheit führen kann, erweckt bei den Bezugspersonen oft den Anschein, als wirke das Medikament bereits gut gegen die Verhaltensauffälligkeit. Eine starke Sedierung eines Betreuten kann sich für den Betreuer als sehr angenehm und weniger arbeitsintensiv erweisen, so dass diesem ein Arztbesuch manchmal nicht notwendig erscheint. Das unerwünschte Verhalten tritt nicht mehr auf und die Sedierung wird dafür in Kauf genommen.

Hirnleistungsschwäche, Störung der Konzentrationsfähigkeit

Durch diese Nebenwirkung besteht die Möglichkeit einer zusätzlichen kognitiven Beeinträchtigung von Menschen mit geistiger Behinderung. Das kann unter anderem zu Versagenserlebnissen in der Schule oder auch zu Hause führen und somit eine Verstärkung anstelle einer Verbesserung des auffälligen Verhaltens bewirken.

Artikulationsstörungen

Artikulationsstörungen können für die Gruppe der Menschen mit geistiger Behinderung, die nur über eine mangelnde verbale Ausdrucksfähigkeit verfügen, eine weitere Einschränkung ihrer Kommunikationsfähigkeiten bedeuten.

Auslösung von Verhaltensstereotypien und Aggressivität

Auch Verhaltensstereotypien und Aggressivität stellen für den beschriebenen Personenkreis eine zusätzliche Verhaltensauffälligkeit dar. Daraus ergibt sich die Folge, dass sie weiterhin eine Sonderstellung innerhalb einer Gruppe darstellen und größtenteils auch soziale Ausgrenzung erfahren.

Steigerung des Speichelflusses

Erhöhter Speichelfluss kann aufgrund des Anblicks und Geruchs eine zusätzliche Belastung im Umgang mit den Bezugspersonen und eine weitere Stigmatisierung in der Öffentlichkeit bedeuten.

Gesteigerte Photosensibilität

Die hohe Lichtempfindlichkeit erfordert im Sommer eine besondere Beachtung durch die Betreuungspersonen, die einen ausreichenden Sonnenschutz der Haut und häufige "Sonnenpausen" gewährleisten müssen.

Störung der Thermoregulation

Auch bei dieser Nebenwirkung ist die Fürsorge der Betreuer gefragt, die dem Menschen mit geistiger Behinderung z.B. helfen müssen, sich klimagerecht zu kleiden.

Erhöhung des Thromboserisikos

Um einer Thrombose vorzubeugen ist viel Bewegung das beste Mittel. Menschen mit geistiger Behinderung, die aber oftmals nicht alleine spazieren gehen dürfen oder können, sind auf die Unterstützung von Seiten der Bezugspersonen angewiesen und erhalten dadurch manchmal nicht die ausreichenden Möglichkeiten der Bewegung. Ein zusätzliches Problem stellt die häufige Bewegungsunlust vor allem übergewichtiger Menschen dar, so dass auch hier Intervention durch die Betreuer notwendig ist. Psychopharmaka wie Neuroleptika und Psychostimulanzien können jedoch bei diesen Menschen eine zusätzliche Verlangsamung und Antriebsarmut bewirken und somit eine ausreichende Bewegung verhindern.

Verminderung der Schmerzempfindung

Da man bei Menschen mit geistiger Behinderung sehr häufig eine heraufgesetzte Schmerzgrenze findet, können durch diese Nebenwirkung der weiteren Einschränkung des Schmerzempfindens große Gefahren entstehen. Auch ein Anstieg von autoaggressiven Verhaltensweisen kann oft verzeichnet werden, da für den Betroffenen ein größeres Maß an Aggressivität notwendig ist, um Reize wahrzunehmen.

Übersteigerte Angst

Übermäßige Angst, die durch Psychopharmaka hervorgerufen werden kann, wird von Betreuern oft als Hysterie oder Bockigkeit aufgefasst und nur selten ernst genommen.

Provokation von cerebralen Anfällen

Ca. 15 % der Menschen mit geistiger Behinderung leiden ohnehin an Epilepsie, so dass die Angst vor einem Anstieg der Anfallsfrequenz die gesamte Therapie überschattet und negativ beeinflussen kann.

(vgl. GAEDT 1997, 305 f.)

Es wird bei der vorliegenden Auflistung, die nur beispielhaft und keineswegs vollständig ist, deutlich, dass viele Nebenwirkungen eine Verstärkung des Problemverhaltens auslösen können und die betroffene Person dadurch zusätzlich belasten. Demnach muss jeder Patient, der Psychopharmaka einnimmt, genau beobachtet werden, so dass bei Unklarheiten und Auffälligkeiten sofort der Arzt kontaktiert werden kann.

Abschließend zu diesem Kapitel sollen noch einige Worte zur Verabreichung von Psychopharmaka mittels Depotpräparaten gesagt werden. Sie bieten speziell bei Menschen mit geistiger Behinderung den Vorteil, dass die Einnahme gesichert ist und der Betroffene nicht jeden Tag mit der oralen Einnahme belastet wird. Für die Menschen, die sich aber nicht gegen die Einnahme von Medikamente wehren, sollte die orale Einnahme vorgezogen werden, da sie die Möglichkeit der aktiven Einbeziehung des Betroffenen in die Therapie bietet. Durch das eigenverantwortliche Einnehmen der Medikamente bekommt dieser das Gefühl, selbst etwas gegen das Problemverhalten zu tun. Allerdings muss die regelmäßige Medikamenteneinnahme als Voraussetzung für die Besserung der Symptomatik gewährleistet sein.

 

5.5 Derzeitige Standardmedikation bei Hyperaktivität und Aggressionen

In diesem Kapitel sollen einige Medikamente vorgestellt werden, die in der Behandlung hyperaktiver und/ oder aggressiver Kinder Anwendung finden. Da es sich hierbei um unterschiedliche Medikamente handelt, werde ich mich jeder Verhaltensauffälligkeit in einem eigenen Unterpunkt zuwenden.

 

5.5.1 Standardmedikation bei Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung

Die Standardpsychopharmaka für die Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung sind schon seit vielen Jahren die Psychostimulanzien, die bereits in Kapitel 5.2.5 beschrieben wurden. An dieser Stelle soll auf das meistverwendete Arzneimittel bei hyperaktiven Kindern, Ritalin näher eingegangen werden.

Ritalin®

Ritalin enthält die Wirksubstanz Methylphenidathydrochlorid und zählt somit zu den Betäubungsmitteln laut Betäubungsmittelverschreibungsordnung (BMVO). Die Anwendungsgebiete des Psychostimulans sind "hyperkinetische Verhaltensstörungen bei Kindern im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie [und] zwanghafte Schlafanfälle während des Tages (Narkolepsie) im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie" (vgl. GEIGY 1996, 1). Es soll an dieser Stelle jedoch aufgrund des Themas dieser Arbeit nur auf das erste Indikationsgebiet eingegangen werden.

Es existieren eine Reihe von Gegenanzeigen für die Einnahme von Ritalin®, die aber bei Kindern in der Regel selten anzutreffen sind. Kontraindikationen sind endogene Depression, Angsterkrankungen, Magersucht, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, familiäres Vorkommen von motorischen Tics, schizophrene Symptomatik, Bluthochdruck, arterielle Verschlusskrankheit, Angina pectoris, tachykarde Arrhythmien, Zustand nach Schlaganfall, Schilddrüsenüberfunktion, erhöhter Augeninnendruck und Prostatavergrößerung mit Restharnbildung (vgl. GEIGY 1996, 1). Nach der Einnahme von MAO-Hemmstoffen sollte eine Pause von mindestens 14 Tagen eingehalten werden, bevor Ritalin® eingesetzt wird. Bei Patienten mit einer Suchtanamnese sollte auf eine Behandlung mit Psychostimulanzien generell verzichtet werden. In der Fachinformation wird außerdem darauf hingewiesen, dass für "die Behandlung von Kindern unter 6 Jahren [...] ausreichende klinische Daten nicht vor[liegen]." (vgl. GEIGY 1996, 1). Bezogen auf Kapitel 3.4, wo festgehalten wurde, dass die Diagnose der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung meistens erst mit Beginn der SCHULZeit gestellt werden kann, erscheint dieses nachvollziehbar. Ob eine Indikation für Psychostimulanzien bei Kindern unter 6 Jahren gegeben ist, muss ohnehin hinterfragt werden.

Die Nebenwirkungen von Ritalin® decken sich allgemein mit denen anderer Psychostimulanzien. Zu Beginn der Behandlung treten häufig Schlaflosigkeit, Inappetenz und Magenbeschwerden auf, die aber in der Regel im weiteren Therapieverlauf abklingen. Bei Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung werden aber außerdem Übererregbarkeit, Müdigkeit, Traurigkeit, Ängstlichkeit, Weinerlichkeit, Kopfschmerzen, Schwindel, Gewichtsverlust, Mundtrockenheit, Durchfall oder Verstopfung beobachtet. Sehr selten treten auch Tics und Verhaltensstereotypien, orofaziale Dyskinesien, Hypersensitivitätsreaktionen (z.B. Konjunktivitis, Kribbelgefühl, Hautausschläge, angioneurotische Ödeme, Urtikaria), Haarausfall, Arthralgien, Thrombozytopenien, Leukopenien und Anämien auf (vgl. GEIGY 1996, 1). Es wird speziell darauf hingewiesen, dass bei Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung keine Abhängigkeitsgefahr besteht, bei nicht bestimmungsgemäßem Gebrauch dagegen schon. Eine Nebenwirkung, die alle Psychopharmaka gemeinsam aufweisen, ist die Herabsetzung des Reaktionsvermögens, was vor allem bei aktiver Teilnahme der Kinder an Straßenverkehr beachtet werden muss (vgl. GEIGY 1996, 2 f.).

Bei der Verordnung von Ritalin müssen außerdem Wechselwirkungen mit anderen Mitteln berücksichtigt werden. Es wird dementsprechend davon abgeraten, das Medikament in Kombination mit MAO-Hemmstoffen, blutdrucksenkenden Mitteln, Antikoagulanzien des Cumarintyps, Antiepileptika, Neuroleptika, trizyklischen Antidepressiva, Phenylbutazon und Antazida einzunehmen (vgl. GEIGY 1996, 1).

Die Dosierung des Arzneimittels muss individuell abgestimmt werden, wobei in der Regel mit 5 mg Methylphenidat pro Tag begonnen wird. Die Tagesdosis kann dann in Schritten von 5 bis 10 mg bis auf eine maximale Dosis von 60 mg pro Tag gesteigert werden. Die gesamte Tagesdosis wird üblicherweise auf 2 oder 3 Gaben am Tag verteilt, wobei die letzte Gabe vor 16 Uhr erfolgen sollte, um den Nachtschlaf des Kindes nicht zu beeinträchtigen. Die Wirkung tritt normalerweise innerhalb einer Stunde nach Einnahme des Medikaments ein. Ein Absetzen von Ritalin® wird bei Ausbleiben eines Behandlungserfolges innerhalb eines Monats und bei Verstärkung von Symptomen oder anderen unerwünschten Wirkungen empfohlen. Auch Ritalin-freie Phasen sollten während der Behandlung durchgeführt werden, um das Verhalten des Kindes in dieser Zeit beobachten zu können.

Nach Angabe der Fachinformation kann die psychopharmakologische Therapie von Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung "[...] im allgemeinen während oder nach der Pubertät beendet werden" (vgl. GEIGY 1996, 1). DÖPFNER et al. weisen dagegen darauf hin, dass bei Menschen mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung nach Absetzen der Medikamente sehr häufig eine deutliche Verschlechterung des Zustands zu verzeichnen ist. Sie raten eher zu einer durchgängigen Therapie mit Psychostimulanzien, die lediglich zu Kontrollzwecken zwischendurch unterbrochen wird (vgl. DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH 1997, 15). Der Zeitpunkt der Beendigung der medikamentösen Therapie ist dementsprechend umstritten und kann nicht allgemeingültig festgelegt werden.

Es werden außerdem viele andere Medikamente zur Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung eingesetzt, jedoch existieren kaum Veröffentlichungen hierzu. An dieser Stelle soll aber darauf hingewiesen werden, dass hyperaktive Kinder teilweise auch mit den Wirkstoffen Fenetyllin, Imipramin, Carbamazepin (z.B. Tegretal®, Timonil®), Tiaprid (z.B. Tiapridex®), Thioridazin (z.B. Melleretten® Saft), Thioxanthen (z.B. Truxal®), Promethazin (z.B. Atosil®, Promethazin-neuraxpharm®) oder mit anderen Psychopharmaka behandelt werden (vgl. KARTE 1988, 342; REISER 1996, 41 ff.; NISSEN 1985, 3684).

 

5.5.2 Derzeitige Standardmedikationen bei aggressiven Kindern

Derzeit existiert keine einheitliche Medikation bei aggressiven Kindern, oftmals werden keine Medikamente eingesetzt. Nur in besonders schlimmen Fällen von Aggressivität kommen Neuroleptika, Benzodiazepine, Betarezeptoren-Blocker oder Lithiumsalze zum Einsatz. Zur Gruppe der Neuroleptika zählen unter anderem die Medikamente Dipiperon® und Haloperidol, die im Folgenden stellvertretend vorgestellt werden sollen.

Dipiperon®

Dipiperon® enthält den Wirkstoff Pipamperondihydrochlorid und gehört zur Gruppe der schwach potenten Neuroleptika. Zu den Anwendungsgebieten zählen abgesehen von psychomotorischer Erregung und Aggressivität auch "Schlaflosigkeit und andere Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus, Stimmungslabilität, Dysphorie, Affektverarmung [und] Verwirrtheit." (JANSSEN-CILAG 1996, 1). Als Gegenanzeigen werden eine Überempfindlichkeit gegen die Wirkstoffe, Komazustände oder akute Intoxikationen, Hirnstammerkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen und endogene Depressionen genannt.

Die Nebenwirkungen von Neuroleptika wurden in Kapitel 5.2.2 bereits angeführt und werden deshalb an dieser Stelle nicht noch einmal aufgezählt. Es wird in der Fachinformation jedoch zusätzlich darauf hinweisen, dass "In seltenen Einzelfällen [...] plötzliche und ungeklärte Todesfälle bei psychiatrischen Patienten beobachtet [wurden], die unter Therapie mit verschiedenen Antipsychotika standen, darunter auch Dipiperon." (JANSSEN-CILAG 1996, 1). Wie bei allen Psychopharmaka kann auch bei diesem Medikament das Reaktionsvermögen herabgesetzt werden, so dass bei aktiver Teilnahme am Straßenverkehr besonders auf die Kinder geachtet werden muss. Aufgrund von möglichen Wechselwirkungen warnt die Firma JANSSEN-CILAG davor, Dipiperon gleichzeitig mit zentralnervös-wirkenden Substanzen, Alkohol, Antihypertonika und Dopamin-Agonisten einzunehmen.

An dieser Stelle soll jedoch auch auf ein weiteres Medikament eingegangen werden, das bei Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung und zusätzlichem aggressiven Verhalten in der letzten Zeit sehr häufig Verwendung findet: Haloperidol. Es zeichnet sich durch eine große Anzahl von Neben- und möglichen Wechselwirkungen aus und ist bei Kindern und Jugendlichen nur unter besonders sorgfältiger Beobachtung anzuwenden. Da CZERWENKA et al. dieses Medikament als gebräuchlich beschreiben, soll es hier genauer vorgestellt werden (vgl. CZERWENKA/ BOLVANSKY/ KINZE 1997, 193).

Haloperidol

Das Neuroleptikum Haloperidol mit dem gleichnamigen Wirkstoff kann man in Tabletten-, Tropfen- oder Infusionsform zu sich nehmen. Die Anwendungsgebiete sind schizophrene Psychosen, psychomotorische Erregungszustände und andere Psychosen. Eine Anwendung darf bei einer Überempfindlichkeit gegen einen der Bestandteile und bei akuten Intoxikationen nicht erfolgen. Nur unter besonderer Beobachtung dürfen Menschen mit einer Leber- oder Niereninsuffizienz, mit kardialer Vorschädigung, prolaktinabhängigen Tumoren, schwerer Hypotonie, Morbus Parkinson, endogener Depression, Blutbildungsstörungen, bekanntem malignem neuroleptischem Syndrom, hirnorganischen Erkrankungen, Epilepsie oder Hyperthyreose mit Haloperidol behandelt werden. Besonders Kinder und Jugendliche sowie ältere Menschen müssen während der Behandlung unter regelmäßiger ärztlicher Kontrolle stehen. Bei Kindern unter drei Jahren darf Haloperidol nicht angewendet werden (vgl. RATIOPHARM 1996, 1).

Die Nebenwirkungen des Haloperidols sind so zahlreich, dass sie an dieser Stelle nur in Stichwortform, nach Auftretenshäufigkeit sortiert, aufgelistet werden können:

häufig:

gelegentlich:

seltener:

sehr selten:

in Ausnahmefällen:

(vgl. RATIOPHARM 1996, 1 f.)

Zu beachten ist, dass besonders bei Kindern schon bei niedriger Dosierung Nebenwirkungen auftreten können. Daher sollte genau überlegt werden, ob die Behandlung mit diesem Medikament sinnvoll sein kann.

Auch die Wechselwirkungen des Haloperidols sind sehr zahlreich. So wird in der Fachinformation vor der gleichzeitigen Einnahme mit Alkohol, zentraldämpfenden Pharmaka, Polypeptid-Antibiotika, Antidepressiva, Stimulanzien vom Amphetamin-Typ, Adrenalin, Phenylephrin, Dopamin, Guanethidin, blutdrucksenkenden Mitteln, Methyldopa, Carbamazepin, Phenobarbital, Diphenylhydantoin, Rifampicin, Nikotin, Lithium, Dompaminagonisten und -antagonisten, anticholinergen Arzneimitteln, Gonadorelin und blutgerinnungshemmenden Pharmaka gewarnt (vgl. RATIOPHARM 1996, 2 f.).

Anhand dieser langen Auflistung wird deutlich, dass das Medikament in vielen Fällen kontraindiziert ist, da von den betroffenen Personen zusätzlich andere Arzneimittel eingenommen werden.

 

5.5.3 Derzeitige Standardmedikationen bei autoaggressiven Kindern

Bei der Personengruppe mit Selbstverletzungsverhalten werden in der Regel Psychostimulanzien, Opiat-Antagonisten, Neuroleptika oder Benzodiazepine eingesetzt. Durch Psychostimulanzien soll bei den betroffenen Personen eine euphorische Stimmung ausgelöst werden, in der das selbstverletzende Verhalten unnötig wird. Opiat-Antagonisten werden dann eingesetzt, wenn die Annahme besteht, dass die Autoaggressionen auf einer Dysfunktion des körpereigenen Opiat-Systems beruhen (Kapitel 4.2.4: Biologischer Erklärungsansatz). Die Opiat-Antagonisten verhindern in diesem Fall die Entstehung von Opiaten im Körper und machen das selbstverletzende Verhalten somit überflüssig. MÜHL et al. weisen darauf hin, dass Neuroleptika nur dann eingesetzt werden dürfen, wenn das autoaggressive Verhalten eindeutig auf eine Psychosen oder das autistische Syndrom zurückgeführt werden kann (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 84). Die Medikamente, die am häufigsten eingesetzt werden sind Benzodiazepine. Sie führen zu einer allgemeinen Beruhigung und Sedierung des Betroffenen und bekämpfen somit die Symptome wirkungsvoll. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass auf diesem Weg keine Ursachenbekämpfung wie in der Behandlung mit Psychostimulanzien, Opiat-Antagonisten und Neuroleptika vorgenommen wird, sondern lediglich eine Verhinderung der Symptome.

Es war mir nicht möglich, das Anwendungsgebiet Autoaggression in einer Fachinformation zu finden, so dass davon ausgegangen werden kann, dass für dieses Störungsbild keine spezifischen Medikamente vorliegen. In der Regel werden Arzneimittel angewendet, die „Psychomotorische Erregungszustände" zu ihren Anwendungsgebieten zählen. An dieser Stelle sollen nun wieder beispielhaft ein Medikament angeführt werden, das dementsprechend auch zu Behandlung von selbstverletzendem Verhalten eingesetzt wird: Taxilan.

Taxilan®

Taxilan® ist ein Medikament aus der Gruppe der Neuroleptika und enthält den Wirkstoff Perazin. Die Anwendungsgebiete sind nach der Fachinformation von PROMONTA-LUNDBECK akute psychotische Syndrome mit Wahn, Halluzinationen, Denkstörungen und Ich-Störungen, katatone Syndrome, chronisch verlaufende endogene und exogene Psychosen, maniforme Syndrome und psychomotorische Erregungszustände (vgl. PROMONTA-LUNDBECK 1996, 1). Autoaggressionen werden sehr häufig unter die psychomotorischen Erregungszustände gefasst (wie Aggressionen und Hyperaktivität auch in vielen Fällen) und fallen somit in den Wirkungskreis dieses Psychopharmakons.

Gegenanzeigen, die einer Anwendung von Taxilan® entgegen stehen, sind kardiale Schädigungen, schwere Leberfunktionsstörungen, Niereninsuffizienz, prolaktinabhängige Tumoren, Hypotonie, orthostatische Dysregulation, Stammhirnerkrankungen, chronische Atembeschwerden oder Asthma, Engwinkelglaukom, Blasenentleerungsstörungen, Magen-Darm-Stenosen, Depression des hämatopoetischen Systems und depressive Syndrome. Eine Anwendung bei Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren ist nicht empfehlenswert, da "kein ausreichendes klinisches Erkenntnismaterial" (PROMONTA-LUNDBECK 1996, 1) vorliegt.

Die Nebenwirkungen des Taxilan sind die, die in Kapitel 5.2.2 in Tabelle 4 bereits dargestellt wurden. Darüber hinaus geben die Hersteller jedoch auch "Sensibilitätsstörungen an Händen und Füßen, insbesondere nach starker Sonneneinstrahlung" (PROMONTA-LUNDBECK 1997, 1) an.

Zuletzt muss noch auf die Wechselwirkungen hingewiesen werden, die bei der gleichzeitigen Einnahme mit zentraldämpfenden Pharmaka und Alkohol, Antihypertonika, Anticholinergika, Dopaminantagonisten, Enzyminduktoren, Propanolol, trizyklischen Antidepressiva, Lithium, Adrenalin, Phenytoin und Koffein zu erwarten sind.

Interessant ist die Tatsache, dass Taxilan® nach Aussage eines Neuropädiaters ein weit verbreitetes Medikament bei Menschen mit geistiger Behinderung jeden Alters ist, die autoaggressives Verhalten zeigen. Die Warnung innerhalb der Fachinformation, dass keine ausreichenden Erkenntnisse über die Wirkungen und eventuellen Spätfolgen bei Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren vorliegen, wird demnach nicht ernst genommen bzw. ignoriert. Die gute Wirkung auf die Symptomatik erhält in diesem Fall einen höheren Stellenwert als die Berücksichtigung von möglichen Gefahren.