4.Aggressionen

Die zweite Form der Verhaltensauffälligkeiten, die in dieser Arbeit berücksichtigt wird, ist die Aggression. Die Aggression kann jedoch nicht allgemein betrachtet und beschrieben werden, da zwei stark unterschiedliche Formen existieren. Aufgrund dessen habe ich eine Teilung dieses Kapitels vorgenommen: zuerst gehe ich auf fremd- und danach auf autoaggressives Verhalten ein, welches in der Arbeit mit Menschen mit geistiger Behinderung einen besonderen Stellenwert einnimmt.

 

4.1 Fremdaggressionen

Die erste Gruppe der aggressiven Verhaltensauffälligkeiten stellen die Fremdaggressionen dar, die sich dadurch auszeichnen, dass sie gegen einen anderen Menschen, ein Tier oder einen Gegenstand gerichtet sind. Aggressives Verhalten darf nicht automatisch als krankhaft angesehen werden, da jeder Mensch aggressive Tendenzen in sich trägt, die einen Teil seiner Persönlichkeit bilden. Wie im folgenden noch näher erläutert wird, ist dieses gesunde Maß an Aggression nicht behandlungsbedürftig, so dass sich dieses Kapitel nur mit den, darüber hinaus gehenden, aggressiven Verhaltensauffälligkeiten beschäftigt, die problematische Auswirkungen auf den Betroffenen selbst und auf sein Umfeld haben.

 

4.1.1 Definition

Eine einheitliche Definition des Begriffs Fremdaggression bzw. Fremdaggressivität existiert nicht. Es soll hier aber trotzdem ein Versuch vorgenommen werden, ein Verständnis der Verhaltensauffälligkeit Fremdaggression, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit generell auch als "Aggression" bezeichnet wird, zu vermitteln, das den betroffenen Personen gerecht werden kann. Zu diesem Zweck führe ich an dieser Stelle zuerst einige vorliegende Definitionen an und isoliere wichtige Elemente.

Im PSCHYREMBEL wird Aggression wie folgt definiert: "Aggression ist die allgemeine Bezeichnung für jedes Angriffsverhalten des Menschen und des Tieres, das gegen andere Individuen [...] gerichtet ist und Verarbeitung (Abwehr, Reaktion) eines vorherigen Angstzustands ist." (PSCHYREMBEL 1994, 26). Die darin enthaltenen Elemente wie Angriffsverhalten und Ausrichtung auf andere Personen können schon einmal festgehalten werden. Wie in Kapitel 4.1.2 noch deutlich gemacht wird, ist Aggression jedoch nicht immer eine Folge von Angst, so dass wir diesen Faktor für unsere Definition außer Acht lassen.

Eine weitere Definition kann im SCHÜLERDUDEN "Die Pädagogik" nachgeschlagen werden. "Unter Aggression wird ein manifestes Verhalten verstanden, dessen Ziel die körperliche oder bloß symbolische Schädigung oder Verletzung einer anderen Person, eines Tiers oder einer Sache ist. Die überdauernde Bereitschaft zu aggressiven Verhaltensweisen wird als Aggressivität bezeichnet." (SCHÜLERDUDEN Die Pädagogik 1989, 13). Aus dieser Definition übernehmen wir die Komponenten der Manifestation, der Möglichkeiten der körperlichen oder symbolischen Äußerung und die Identifikation von Menschen, Tieren oder Gegenständen als mögliche Opfer.

PETERMANN führt in ihrer Definition noch einen weiteren Aspekt an, der von besonderer Bedeutung für diese Thematik ist. Sie erläutert:

Der Gesichtspunkt der angemessenen Aggression wurde bisher in keiner Definition berücksichtigt. Diese „normale" Aggressionsform, die bei jedem Menschen anzutreffen ist, darf bei der Beurteilung eines aggressiven Schülers nicht übersehen werden. Sie ist nicht behandlungsbedürftig und darf auf keinen Fall unterdrückt oder abgebaut werden, da dieses eine Störung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes und des Erwerbs sozialer Kompetenzen bedeuten kann.

Ein letzter Erklärungsversuch, der an dieser Stelle aufgegriffen werden soll, stammt von SELG . Er beschreibt:

SELG nimmt eine konkrete Charakterisierung der schädigenden Reize vor, indem er die Möglichkeit vernichtender Verhaltensweisen ebenso anspricht wie die der Beleidigung und der Verletzung. Die unterschiedlichen Formen der Aggression werden in Kapitel 4.1.3 noch näher differenziert.

Abschließend soll nun die dieser Arbeit zugrunde liegende Definition von Aggression formuliert werden, die die von mir als grundlegend erachteten Komponenten beinhaltet:

 

4.1.2 Entstehungstheorien

Wie auch bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung existiert eine große Anzahl von Theorien, die die Entstehung von Fremdaggression klären sollen. Eine einheitliche Ansicht hierüber liegt bis heute nicht vor (vgl. MEINS 1989, 98), was auch daran liegen kann, dass es unzählige Formen und Möglichkeiten aggressiven Verhaltens gibt. Die am häufigsten angeführten Theorien werden nun kurz dargestellt.

 

a) Triebtheorien

Zu den Triebtheorien zählt zuerst die psychoanalytische Hypothese des Todestriebs nach Freud. Diese besagt, dass jeder Mensch einen solchen Todestrieb besitzt, der jedoch von seinem Gegenspieler Eros, dem Lebenstrieb, aufgewogen wird. Der Lebenstrieb sorgt dafür, dass Aggressionen nach außen und somit in der Regel zu anderen Menschen hin gewendet werden, um das Leben des betroffenen Individuums zu bewahren.

Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz dagegen ist der Begründer einer zweiten Triebtheorie. Er spricht von einem natürlichen Aggressionstrieb, der in jedem Menschen vorliegt. Dementsprechend wird ständig Aggressionsenergie gebildet, die nur dann abgebaut werden kann, wenn auslösende Momente vorhanden sind. Bleiben aggressionsauslösende Reize jedoch aus, kann es zu einem sogenannten „Überlaufen" der Energie kommen und Aggressionen brechen auch ohne vorhandenen Grund aus. Lorenz empfiehlt aus diesem Grund z.B. sportliche, wissenschaftliche und künstlerische Wettbewerbe, um eine regelmäßige Nutzung der Energie für viele kleinere Aggressionen zu gewährleisten und einen unbegründeten Aggressionsausbruch zu verhindern.

 

b) Frustrations-Aggressions-Hypothese

Die Frustrations-Aggressions-Hypothese beruht auf der Grundlage zweier Gesichtspunkte:
I) Aggression ist immer eine Folge von Frustration und
II) Frustration führt immer zu einer Form von Aggression (vgl. SELG 1997, 23).

Aggression ist demnach immer die Folge eines auslösenden Moments (hier: der Frustration).

In der weiteren Untersuchung dieser Theorie wurde zusätzlich die Katharsishypothese formuliert. Sie besagt, dass eine Katharsis, also die Befreiung von aggressiven Tendenzen, durch die Äußerung vieler kleiner Aggressionen oder durch sportliche körperliche Aktivitäten erreicht werden kann. In diesem Punkt tritt also eine deutliche Übereinstimmung mit der Ansicht Konrad Lorenz` ein, der die gleiche Form der „Abreaktion" der Aggression vorschlägt, um eine Eskalation zu vermeiden.

 

c) Lerntheorien

Die bekanntesten Lernformen sind die der klassischen und operanten Konditionierung.

Die klassische Konditionierung basiert auf der Grundlage, dass ein neutraler Reiz, der anfänglich mit einem unbedingten Reiz kombiniert wird, später zu einem bedingten Reiz werden und somit eine bedingte Reaktion hervorrufen kann. Auf diesem Weg können negative Gefühle auf einen neutralen Reiz übertragen werden und dadurch z.B. Wutreaktionen und somit auch Aggressionen verursachen.

Das operante Konditionieren dagegen arbeitet mit Verstärkern zum Erwerb neuer bzw. zum Verfestigen bestehender Verhaltensweisen. Aggressives Verhalten kann also ebenso auf diesem Weg verursacht werden.

Eine dritte Form des Lernens ist das Modellernen. Demnach steht einem Kind, welches aggressives Verhalten lernt, ein Modell zur Verfügung (das kann ein Erwachsener oder ein anderes Kind sein), welches ihm das auffällige Verhalten demonstriert. Das Kind erkennt deutlich die Erfolge, die das Modell aufgrund des aggressiven Verhaltens erreicht und imitiert dieses Verhalten verständlicherweise.

Zuletzt muss noch die Möglichkeit des Lernens am Effekt dargestellt werden. Demnach erfährt ein Kind, welches Aggressionen als zufälliges Verhalten äußert, dass es damit erfolgreich sein kann. Es wird aufgrund dessen auch zukünftig versuchen, seine Ziele durch aggressives Verhalten zu erreichen.

Die Lerntheorien klingen insgesamt nachvollziehbar was die Verursachung von aggressiven Verhaltensweisen betrifft. Es muss an dieser Stelle jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass bei gelerntem Verhalten in der Regel immer auch eine Löschung des störenden Verhaltens möglich ist, nämlich dann, wenn der Betroffene konsequent die Erfahrung macht, dass das Verhalten für ihn keinen Zweck und somit auch keinen Sinn mehr erfüllt.

 

d) Aggression als Folge von Interaktion

Die Interaktions-Theorie besagt, dass aggressives Verhalten auch eine Folge von Interaktionen zwischen zwei oder auch mehreren Personen sein kann. So könnte z.B. ein Kommunikationsproblem zwischen zwei Menschen zu Missverständnissen und somit zu Aggressionen führen. In dem Fall müssen, um dem Betroffenen zu helfen, mit seinen spezifischen Interaktionsproblemen zurecht zu kommen, die auslösenden Faktoren genau herausgearbeitet werden. Ebenso wie bei der gelernten Aggression liegt der eigentliche Grund für das Verhalten auch hier nicht bei dem Betroffenen selbst, sondern zu einem großen Teil an seinem persönlichen Umfeld. 

Die hier vorgestellten Theorien zur Entstehung der Aggression können nicht als alleinige Ursachen für aggressives Verhalten angesehen werden. Sie tragen lediglich teilweise dazu bei, dass dieses Verhalten entsteht.

PETERMANN und WIEDEBUSCH formulieren in ihrer Arbeit aus diesem Grund darüber hinaus sogenannte prädisponierende Faktoren, die das Aufkommen aggressiven Verhaltens begünstigen. Dazu zählen sie vor allem ein problematisches Erziehungsverhalten in der Familie, einen Mangel an Selbstkontrolle, an sozialer Kompetenz und an Einfühlungsvermögen in den Anderen, ein negatives Selbsterleben, und einen feindlichen Attributionsstil (vgl. PETERMANN/ WIEDEBUSCH 1993, 324 ff.). Unter problematischem familiären Erziehungsverhalten ist unter anderem ein inkonsequenter Umgang mit Regeln, die Duldung oder Verstärkung des aggressiven Verhaltens oder ein entsprechendes Modellverhalten zu verstehen. Ein Mangel an Selbstkontrolle liegt bei vielen aggressiven Kindern vor, sofern sie eine gesteigerte motorische Aktivität und mangelnde Impulskontrolle, ähnlich den Kindern mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung aufweisen. Viele aggressive Kinder verfügen zusätzlich über ein sehr negatives Selbstkonzept. Ihnen stehen keine alternativen Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung, so dass sie nur auf Aggressionen zurückgreifen können. Das fehlende Repertoire an nicht-aggressiven Verhaltensweisen stellt einen Aspekt des Mangels an sozialer Kompetenz dar. Vor allem soziale und kommunikative Fähigkeiten müssen geschult werden, um es den Betroffenen zu ermöglichen, auf Aggressionen zu verzichten. Der Mangel an Empathie, also der Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, leitet sich nach PETERMANN und WIEDEBUSCH von der "niedrigen Ausprägung allgeMEINER kognitiver Fähigkeiten" (PETERMANN/ WIEDEBUSCH 1993, 327) ab. Diese Schwäche kann sehr leicht dazu führen, dass vor allem durch Missverständnisse für den Betroffenen bedrohliche Situationen entstehen, auf die er aggressiv reagiert. Damit hängt auch der feindliche Attributionsstil zusammen. Die betroffenen Kinder haben eine eingeschränkte,einseitige Wahrnehmung, so dass sie ihren Kommunikations- und Interaktionspartnern sehr leicht feindliche Absichten unterstellen auf die sie entsprechend mit Fremdaggressionen reagieren.

Man kann an der Vielfalt der möglichen Auslöser erkennen, dass Aggression nicht allgemein betrachtet werden kann, sondern immer individuell analysiert werden muss. Sehr häufig findet man einen multikausalen Hintergrund des abweichenden Verhaltens und je nach Zusammensetzung der Elemente entstehen verschiedene Formen der Aggression. Diese müssen wiederum entsprechend unterschiedlichen Therapieformen und pädagogischen Maßnahmen zugeführt werden.

 

4.1.3 Formen der Fremdaggression

Wie im bisherigen Kapitel bereits angedeutet, existiert eine Reihe von unterschiedlichen Arten der Aggression. Einige Beispiele sind in der nachstehenden Übersicht kurz dargestellt.

Übersicht 5: Formen der Fremdaggression

Formen der Aggression:

  • offene oder verdeckte Aggression
  • direkte oder indirekte Aggression
  • Einzel- oder Gruppenaggression
  • positive oder negative Aggression
  • spontane oder reaktive vs. befohlene Aggression
  • spielerische oder ernsthafte Aggression
  • instrumentelle oder emotionale vs. erregungsgeleitete Aggression

 

Diese Formen beziehen sich auf unterschiedliche Gesichtspunkte der Aggression und können kombiniert werden, um die genaue Ausprägungsart einer Aggression zu bestimmen (z.B. befohlene Gruppenaggression oder verdeckte ernsthafte Aggression).

Um eine generelle Einteilung vorzunehmen, bietet sich die Klassifizierung nach DUTSCHMANN an, der global drei Formen der Aggression unterscheidet, die gerade bei Menschen mit geistiger Behinderung häufig anzutreffen sind: der instrumentelle Typ (Typ A), der Emotionstyp (Typ B) und der Erregungstyp (Typ C).

Der Typ A ist dadurch gekennzeichnet, dass aggressive Handlungen zielgerichtet ablaufen und aktiv als Instrument zum Erreichen bestimmter Ziele eingesetzt werden. Die Definition lautet: "Aggression vom Typ A ist der Versuch, gezielt und/ oder geplant anderen Menschen zur Erlangung eines persönlichen Vorteils Schaden zuzufügen." (DUTSCHMANN 1995, 7).

Aggressionen des Typs B charakterisieren sich dadurch, dass sie reaktiv, also vorwiegend automatisch oder sogar reflexartig ablaufen und gleichzeitig einen expressiven Charakter haben. Die zugehörige Definition besagt: "Aggression vom Typ B ist durch Emotionen bzw. Erregung hervorgerufenes und/ oder begleitetes Verhalten zur Reduktion von Spannung und zur Abwehr von Reizen, wobei die Schädigung eines anderen in Kauf genommen wird." (DUTSCHMANN 1995, 7).

Die Aggressionen des Erregungstyps zeichnen sich durch einen Zustand höchster Erregung aus. In der entscheidenden Situation ist weder dem Betroffenen selber noch einem Betreuer die Möglichkeit gegeben, den Vorgang zu steuern oder zu stoppen. DUTSCHMANN definiert folgendermaßen: "Aggression vom Typ C ist ein durch hohe Erregung hervorgerufenes, weitgehend ungesteuertes Verhalten mit schwerer Gefährdung von Personen und Sachen." (DUTSCHMANN 1995, 7). Man kann den Erregungstyp der Aggression in drei beobachtbare Phasen einteilen:

a) Eskalationsphase: Der Betroffene steigert sich in Erregung, ist noch ansprechbar und kann seine Sinne wenigstens noch teilweise kontrollieren.

b) Phase höchster Erregung: Es werden ohne Rücksicht auf die Umgebung und sich selbst blindwütige, unüberlegte aggressive Handlungen ausgeführt, wechselseitige Kommunikation ist in der Regel nicht mehr möglich.

c) Entspannungsphase: Der Betroffene wird wieder ansprechbar und entspannt sich allmählich.

Anhand dieser Einteilung der Aggression in den instrumentellen, den Emotions- und den Erregungstyp soll aggressives Verhalten in dieser Arbeit charakterisiert werden. Auch die therapeutischen und pädagogischen Maßnahmen lassen sich durch diese Klassifizierung einteilen.

 

4.1.4 Diagnostik

Aufgrund der vielen unterschiedlichen Möglichkeiten der Auslegung des Begriffs Aggression ist es sehr schwierig, einen Katalog an Diagnosekriterien zu finden, der auf eine spezielle Form aggressiven Verhaltens abgestimmt ist. Deshalb kann weder das ICD-10 noch das DSM-IV zur Diagnostik der drei eben charakterisierten Formen der Aggression herangezogen werden. An dieser Stelle soll jedoch der Versuch angestrengt werden, statt dessen einen eigenen Katalog mit Diagnosekriterien aufzustellen.

Übersicht 6: Diagnosekriterien der Fremdaggression

Zur Diagnostik aggressiven Verhaltens der Typen A, B und C müssen folgende allgemeine Kriterien erfüllt sein:

  • das aggressive Verhalten tritt nicht nur einmalig auf, sondern wiederholt sich oft oder ist ständig präsent,
  • das aggressive Verhalten ist in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden Ausmaß vorhanden,
  • das aggressive Verhalten tritt schon seit Monaten oder länger auf,
  • das aggressive Verhalten richtet sich gegen andere Menschen, gegen Tiere oder gegen eigene oder fremde Gegenstände,
  • durch das aggressive Verhalten werden die grundlegenden Rechte anderer und/ oder soziale Normen und Regeln verletzt und
  • das aggressive Verhalten tritt in mehreren Lebensbereichen auf und beeinträchtigt den Betroffenen dadurch.

Für den Typ A (instrumenteller Typ) gilt zusätzlich folgendes Kriterium:

  • das aggressive Verhalten kann deutlich als zielgerichtet erkannt werden.

Für den Typ B (Emotionstyp) gelten zusätzlich folgende Kriterien:

  • das aggressive Verhalten kann als Reaktion auf bestimmte Bedingungen erkannt werden und
  • das aggressive Verhalten dient als Ausdrucksmöglichkeit von Gefühlen.

Für den Typ C (Erregungstyp) gilt zusätzlich folgendes Kriterium:

  • das aggressive Verhalten ist weder von dem Betroffenen noch von anderen Personen steuer- oder beeinflussbar.

 

4.1.5 Behandlungsmöglichkeiten

Zur Behandlung aggressiven Verhaltens werden einige Methoden angewendet, die auch in der Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörung Verwendung finden: die Psychopharmakotherapie, die Verhaltenstherapie und die Entspannungsmethoden. Darüber hinaus sind aber teilweise auch Kommunikationstrainings notwendig, um einen Abbau des auffälligen Verhaltens zu erreichen. Die einzelnen Möglichkeiten der Behandlung und ihre Anwendung bei aggressiven Menschen sollen nun kurz vorgestellt werden:

a) Psychopharmakotherapie

Eine Therapie mit Psychopharmaka erweist sich dadurch als problematisch, da die angewendeten Medikamente abgesehen von pathologischen bzw. übersteigerten Aggressionen auch "normale" aggressive Reaktionen beeinträchtigen können. Dadurch besteht die Gefahr der Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung oder anderer auffälliger Verhaltensweisen. Aus diesem Grund ist eine besonders sorgfältige Auswahl und Dosierung der Medikamente notwendig, um eine zusätzliche Beeinträchtigung der Betroffenen zu vermeiden.

In Kapitel 5.5.2 werden die bei aggressivem Verhalten üblichen Medikamente vorgestellt.

 

b) Strafverfahren

Verhaltenstherapeutische Maßnahmen, vor allem Strafverfahren, nehmen in der Therapie von Aggressionen den größten Stellenwert ein.

Die Bestrafung kann zum Beispiel als Entzug positiver Verstärker erfolgen und wird immer unmittelbar nach der aggressiven Handlung eingesetzt. Positive Verstärker, die entzogen werden können, sind z.B. die Beteiligung an den Handlungen der Gruppe, bevorzugtes Spielzeug, Süßigkeiten und persönliche Vergünstigungen.

Ebenso kann der Betreuer nach jedem Auftreten von Aggressionen eine Überkorrektur vornehmen. Dazu hält er den Betroffenen dazu an, die ursprüngliche Situation wiederherzustellen, um dann zu versuchen, diese Situation mit alternativem Verhalten zu meistern. Inwiefern die Wiederherstellung möglich ist und inwieweit die anderen an dieser Situation Beteiligten dazu bereit sind, hängt sicherlich unmittelbar von der Art der vollzogenen aggressiven Handlung ab und kann somit generell nicht immer erreicht werden.

Es muss an dieser Stelle aber betont werden, dass Strafverfahren als pädagogische Maßnahmen grundsätzlich abzulehnen sind. Durch Bestrafung kann kein Einfluss auf die Ursache des Verhaltens genommen werden, da sie lediglich versucht, das auftretende Verhalten zu unterdrücken. Dazu kommt, dass Bestrafungen meistens Faktoren betreffen, die das auffällige Verhalten nicht betreffen. Ein Beispiel hierfür wäre, wenn einem Schüler z.B. nach dem Zerstören eines Turms, den ein Mitschüler gebaut hat, nicht erlaubt wird, in der Pause mit auf den Schulhof zu gehen. Eine Strafe, die für den Schüler besser zu begreifen ist, wäre z.B. ein Neubau des Turms.

Darüber hinaus stellen sich bestrafende Maßnahmen in der Regel als unwürdig und verachtend gegenüber dem betroffenen Menschen dar.

 

c) Fixierung

Die Fixierung eines aggressiven Menschen ist manchmal die einzige Möglichkeit, ihn selbst und andere vor körperlichen Schäden zu bewahren. Damit ist in diesem Fall die kurzfristige manuelle Fixierung durch einen Betreuer gemeint, obwohl teilweise auch mechanische Fixierungen angewendet werden müssen. In diesen sehr seltenen Fällen ist eine Person in der Regel so stark aggressiv, dass die Betreuer die Verantwortung für andere Anwesende nicht übernehmen können und den Betroffenen daher z.B. auf einem Stuhl fixieren müssen. Das findet aber hauptsächlich in psychiatrischen Einrichtungen statt, in denen zusätzlich weitere intensivere Therapieformen angewendet werden, um dem Patienten auf weitere Sicht die Fixierung ersparen zu können.

Eine Fixierung aggressiver Kinder in der Schule muss demnach streng abgelehnt werden, da dieses oftmals nur aus dem Grund vorgenommen wird, dass ein möglichst störungsarmer Unterricht gewährleistet ist. Eine dauerhafte Fixierung kann sehr negative Folgen für den Betroffenen mit sich bringen.

 

d) Verstärkung positiver Verhaltensweisen

Diese Interventionsform bei aggressivem Verhalten sollte neben anderen Maßnahmen konsequent verfolgt werden. Zufällig oder auch absichtlich geäußertes positives (also nicht- oder angemessenes aggressives) Verhalten wird vor allem durch das Wahrnehmen des Lehrers und darüber hinaus durch Lob und Anerkennung verstärkt. Schon durch eine kontingente Verstärkung positiven und ein kontingentes Ignorieren auffälligen Verhaltens kann teilweise eine Verhaltensänderung oder zumindest -besserung erreicht werden.

 

e) Aufbau alternativer Verhaltensweisen

Neben der Verstärkung vorhandener positiver Verhaltensweisen sollte jedem Kind die Möglichkeit gegeben werden, alternative Handlungsweisen zu erlernen bzw. einzuüben. Das kann zum Beispiel in Form des Problemlösetrainings, der Selbstinstruktion oder des Selbstmanagements, die in Kapitel 3.6 im Rahmen der Behandlung hyperaktiver Kinder bereits vorgestellt wurden, erfolgen.

 

f) Kommunikationstraining

Bei aggressiven Personen, die unter eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten leiden, kann das auffällige Verhalten oftmals durch ein individuelles Kommunikationstraining abgebaut werden. Vielen dieser Kinder liegen, abgesehen von der Aggression, keine alternativen Handlungsmöglichkeiten vor, um Bedürfnisse zu äußern oder auf Probleme hinzuweisen. Das Kommunikationstraining stellt somit gleichzeitig eine Form des Aufbaus alternativer Verhaltensweisen dar.

DUTSCHMANN stellt in seiner Arbeit spezielle Maßnahmen vor, die zur Besserung des jeweiligen speziellen Typs der Aggression beitragen können (vgl. DUTSCHMANN 1995, 8 ff.).

Im Fall der instrumentellen Aggression schlägt er vor allem Maßnahmen der Verhaltenssteuerung und den Aufbau positiver Verhaltensweisen vor. Dazu gehören das Ignorieren bzw. die Bestrafung aggressiven Verhaltens und die Verstärkung positiven alternativen Verhaltens.

Bei Aggressionen vom Emotionstyp dagegen soll versucht werden, von vornherein negative Gefühle abzubauen. In Stresssituationen jedoch sind vor allem die Entspannung des Betroffenen und das Unterbrechen von Kreisprozessen (sogenannte Teufelskreise) von großer Bedeutung. Zur Nachbearbeitung einer aggressiven Situation bieten sich verstehendes Zuhören und emotionale Hilfestellung an.

Bei Aggressionen vom Erregungstyp sollte der Pädagoge oder Betreuer für eine präzise Beobachtung des Geschehens, für eine größtmögliche Beruhigung der Situation und für die Sicherheit aller Beteiligten sorgen. Weitere spezielle Maßnahmen müssen anhand der entsprechenden Phase der Aggression ausgewählt werden. In der Eskalationsphase können folgende Verhaltensweisen hilfreich sein:

In der zweiten Phase, die sich durch höchste Erregung auszeichnet, steht neben der Vermeidung einer Eskalierung in Form von Schäden an Personen und Gegenständen die Verhinderung der positiven Verstärkung des aggressiven Verhaltens im Vordergrund. Pädagogische Handlungsmöglichkeiten in dieser Phase sind:

In der letzten Phase kann die pädagogische Intervention nur eine Beruhigung des Kindes und ein ausführliches Gespräch beinhalten, da das Kind meistens sehr unglücklich über die vorangegangenen Geschehnisse ist und Vorwürfe lediglich Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl des Kindes haben. Können im Nachhinein die auslösenden Faktoren für die Erregung analysiert werden, so können durch eine gemeinsame Arbeit zwischen dem Betroffenen und dem Pädagogen zukünftige Aggressionsausbrüche gemildert oder ganz verhindert werden.

 

4.1.6 Fremdaggressives Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung

Auch Menschen mit geistiger Behinderung zeigen aggressives Verhalten, z.B. in Situationen der Provokation, bei Überforderung oder wenn sie unbedingt ihren Willen durchsetzen möchten.

MEINS führte 1989 eine Untersuchung bezüglich aggressiven Verhaltens bei Menschen mit geistiger Behinderung in seiner Häufigkeit und im Zusammenhang mit sozialer Kompetenz und sozialer Unterstützung durch. Er fand heraus, dass häufiges aggressives Verhalten meistens mit "Problemen im Umgang mit Frustration und Kritik, geringen Selbsthilfefertigkeiten, niedriger sozialer Unterstützung und Epilepsie" (MEINS 1989, 98) einhergeht. Anhand dieser Merkmale kann man erkennen, dass gerade die Frustrationstoleranz und die Selbständigkeit von Menschen mit geistiger Behinderung verbessert werden müssen, um einen Rückgang aggressiven Verhaltens zu erreichen. Die beschriebene Untersuchung ergab, dass von 692 institutionalisierten Menschen mit geistiger Behinderung 15,8 % aggressives Verhalten zeigten, das entweder gegen andere Personen oder Gegenstände gerichtet war. Die Frage, ob die Institutionalisierung zu dieser hohen Zahl beiträgt, kann nicht eindeutig beantwortet werden, da in Deutschland bisher keine gleichartigen Untersuchungen außerhalb von Institutionen durchgeführt wurden. Es wird jedoch von vielen Autoren angenommen, dass aggressives Verhalten auch eine Form des Hospitalisierungseffekts darstellt, was auch aus dem Tierreich bekannt ist.

Insgesamt fehlen Untersuchungen zum Thema Aggression bei Menschen mit geistiger Behinderung, da bei diesem Personenkreis viel häufiger die Autoaggression (vgl. Kapitel 4.2) erforscht wird.

 

4.1.7 (Sonder-) Pädagogische Schlussfolgerungen

Auch in der Schule für Geistigbehinderte stellt aggressives Verhalten ein häufiges Problem dar. Dadurch, dass es sehr wenig Literatur zu dem Thema Aggression und geistige Behinderung gibt, stehen den Pädagogen nur wenig Anregungen für den Umgang mit diesen Kindern zur Verfügung. Es bedarf also eigener Initiative, um einen Weg zu finden, diese Kinder gerecht zu behandeln und ihnen zu helfen. Faktoren, die die Beziehung zu aggressiven Schülern erschweren, sind zum Beispiel die von MEINS beschriebene geringe Frustrationstoleranz (vgl. MEINS 1989, 98) und die häufig fehlende Einsicht der Kinder. Dadurch und durch die in vielen Fällen eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten kann ein Gespräch mit dem Schüler erschwert oder sogar unmöglich sein. Der Pädagoge muss also einen eigenen, individuell auf den betroffenen Schüler zurechtgeschnittenen Weg verfolgen, um eine (langfristige) Verhaltensänderung erreichen zu können.

Dabei ist wichtig zu beachten, dass eine richtige Deutung der jeweiligen Funktion des aggressiven Verhaltens vorliegt. Während nämlich bei einem Schüler mit instrumenteller Aggression, das heißt, er setzt das aggressive Verhalten ein, um seinen Willen durchzusetzen ein Ignorieren des Verhaltens hilfreich sein kann, ist dieses bei Kindern, die mit Hilfe von Aggressionen auf sich und ihre Probleme aufmerksam machen wollen, weil sie keine andere Möglichkeit dazu haben, absolut unangebracht. Vor der Planung der weiteren Vorgehensweise muss also immer eine genaue Analyse der Aggression durchgeführt werden, um eine weitere Einschränkung der betroffenen Person oder eine Umwandlung der Aggressionen in andere Verhaltensauffälligkeiten (z.B. Autoaggression) zu verhindern.

Des weiteren muss in einer Klasse an der Schule für Geistigbehinderte besonders darauf geachtet werden, dass wehrlose Schüler (z.B. Kinder mit einer Schwerst- oder Mehrfachbehinderung) nicht in den Gefahrenkreis geraten, da ihnen meist keine Möglichkeiten der Flucht und Abwehr zur Verfügung stehen. Auch muss überlegt werden, ob (vor allem bei älteren und körperlich starken Schülern) der Pädagoge in der Lage ist, einen aggressiven Schüler in Krisensituationen festzuhalten. Diese Intervention kann notwendig sein, um diesen und andere Schüler vor größeren Schäden zu bewahren. Stellt sich heraus, dass der zugehörige Klassenleiter dazu nicht fähig ist, muss eine personelle Umbesetzung ins Auge gefasst werden. Diese muss jedoch ebenfalls gut überlegt sein, da eine solche Umstrukturierung für bestimmte Schüler den Verlust von Sicherheit bedeuten kann und somit weitere Verhaltensauffälligkeiten ausgelöst oder vorhandene verstärkt werden können.

Man kann deutlich erkennen, dass der Umgang mit diesen Schülern sicher nicht leicht ist, und spezielle pädagogische Fördermaßnahmen notwendig sind, wie sie im folgenden Kapitel dargestellt werden.

 

4.1.8 Spezielle pädagogische Interventionsmaßnahmen bei fremdaggressiven Schülern

Da sich die unterrichtliche Situation, wie gerade dargestellt, mit aggressiven Schülern teilweise als sehr schwierig erweist, werden große Ansprüche an ein pädagogisches Programm zum Umgang mit diesen Schülern gestellt. Insgesamt existieren kaum Leitlinien, die Pädagogen konkrete Verhaltensregeln für den optimalen Umgang mit aggressiven Kindern geben. Aus diesem Grund werde ich an dieser Stelle zusammenfassen, was meines Erachtens für diese Arbeit wichtig ist und wie die schulische Situation entspannt werden kann.

Entsprechend der Entstehungstheorien von Fremdaggression könne zuerst verschiedene Ziele formuliert werden, die der Pädagoge innerhalb des Unterrichts anstreben sollte:

Um diese, zugegebenermaßen zahlreichen und hoch gesteckten Ziele erreichen zu können, kann unter anderem auf Elemente des „Therapieprogramms für Kinder mit hyperkinetischem und oppositionellem Problemverhalten" nach DÖPFNER/ SCHÜRMANN/ FRÖLICH zurückgegriffen werden. Es bieten sich hierbei u.a. der "Wettkampf um lachende Gesichter" und die "Spaß- und Spielzeit" an, die im Anhang dieser Arbeit dargestellt werden.

Insgesamt sollte der Unterricht so aufgebaut sein, dass das soziale Lernen maximal gefördert wird. In diesem Zusammenhang ist ein positives Modellverhalten durch den Lehrer und andere Schüler wichtig, weil es sich in der Regel günstig auf das Benehmen eines zu Aggressionen neigenden Schülers auswirkt. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass ausschließlich positives Verhalten verstärkt, negatives dagegen, wenn möglich ignoriert wird. Ist ein Ignorieren nicht möglich, da andere Schüler oder die Person des Lehrers gefährdet sind, sollte eine leichte Bestrafung, z.B. in Form eines Verstärkerentzugs durchgeführt werden, um dem Schüler sein falsches Verhalten bewusst zu machen. Die Art der Verstärkung muss auf den Schüler individuell abgestimmt werden, wenn möglich sollten soziale Verstärker eingesetzt werden, reichen diese nicht aus, kann auch auf ausführliche Verstärkerpläne (z.B. die Punkte-Schlange) zurückgegriffen werden.

Es sollten zusätzlich zu diesen grundsätzlichen Regeln für den Unterricht einzelne Sequenzen eingefügt werden, in denen die Problemlösefähigkeit und das Vermögen der Empathie der Schüler gefördert wird. Letzteres ist wichtig, da davon ausgegangen werden kann, dass die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hinein zu versetzen, den Einsatz aggressiver Handlungen hemmt. Um ein gewisses Maß an Empathie aufzubauen, können z.B. Fotos oder Videosequenzen eingesetzt werden, anhand derer die Schüler die momentane Gefühlslage der abgebildeten Personen bestimmen sollen. Zusätzlich kann gemeinsam überlegt werden, aus welchem Grund eine Person die identifizierten Emotionen zeigen könnte. Auch durch Rollenspiele und pantomimische Darstellungen des Lehrers und der Schüler kann erreicht werden, dass die Schüler lernen, zu erkennen, wie sich ein anderer Mensch fühlt.

Das Training zur Verbesserung der Problemlösefähigkeit kann ebenfalls in der Gruppensituation oder auch in Einzelarbeit durchgeführt werden. Dabei sollte zuerst das Erkennen von Problemen im Vordergrund stehen. Hierzu können wieder Fotos, Rollenspiele oder auch verbale Situationsbeschreibungen eingesetzt werden, anhand derer die Schüler (der Schüler) eine Problemlage erkennen und beschreiben sollen (soll). Anschließend werden so viele Handlungsmöglichkeiten wie erdenklich gesammelt und nachfolgend auf ihre möglichen Konsequenzen hin untersucht. Zuletzt soll, mit Hilfe einer Art Schaden-Nutzen-Relation, durch alle (den) Schüler die optimale Handlungsalternative ausgewählt werden. Innerhalb der Gruppe besteht die Möglichkeit, die Situation und die ausgewählte Lösung mittels Rollenspiel durchzuführen und anschließend gemeinsam zu bewerten. Besuchen auch Schüler mit ohnehin guten Problemlösefähigkeiten die Klasse, sollten diese die Unterrichtssequenz nicht dominieren. In diesem Fall kann aber auch eine Art Selbstinstruktionstraining (siehe Kapitel 3.6: Kognitive Verhaltenstherapie) unter den Schülern durchgeführt werden. Dazu wird ein Schüler mit der entsprechenden Qualifikation ausgewählt und vor eine Problemsituation gestellt. Er soll versuchen, diese zu lösen und dabei seine Gedanken verbalisieren, so dass die anderen Kinder die Möglichkeit haben, zu lernen, wie man mit Problemen umgehen kann.

Weiterhin sollten Entspannungsübungen einen festen Platz im Unterricht aggressiver Schüler haben, da sie den Schülern helfen können, sich selbst zu beruhigen. Eine angenehme Atmosphäre, die Sicherheit vermittelt und durchgeführte Entspannungsübungen, wie sie im Anhang dargestellt werden, tragen zu einer allgemeinen Entspannung der Gruppen- und Unterrichtssituation bei.

Elemente des sozialen Lernens nehmen in der Schule für Geistigbehinderte ohnehin einen großen Stellenwert ein, so dass die Zeit, die diese Schüler mehr brauchen, um die oben dargelegten Programme zu verarbeiten und umzusetzen, erübrigt werden kann. Es ist damit zu rechnen, dass sich das Gesamtlernverhalten der Klasse hierdurch nachhaltig verbessert, so dass sich im weiteren Verlauf eine effizientere Lernsituation ergibt und sich der zusätzliche Zeitaufwand dadurch rentiert. Probleme können meines Ermessens vor allem in der Bildung der Empathiefähigkeit auftreten, da vielen Schülern die Einsicht in die Konsequenzen ihres Verhaltens auf andere Menschen fehlt. Aus diesem Grund ist in der Regel eine vielseitige und häufige Durchführung empathiefördender Übungen vonnöten, um das Einfühlungsvermögen der Schüler aufzubauen.

Entspannungsübungen müssen stets so ausgewählt werden, dass sie jeden Schüler ansprechen und beruhigen können. Haben diese Übungen einen festen Platz im Schulalltag gefunden, sind in der Regel alle Schüler bereit, daran teilzunehmen und sich darauf einzulassen.

 

4.2 Autoaggressionen

Die Autoaggressionen stellen die zweite große Gruppe der aggressiven Verhaltensweisen dar. Auch wenn man bei selbstverletzendem Verhalten im ersten Moment lediglich an die Personengruppe mit geistiger Behinderung denkt, bedeutet es nicht, dass auch nur diese Menschen davon betroffen sind. Jedermann zeigt hin und wieder eher unbewusst autoaggressives Verhalten. BERNARD-OPITZ führt in einer ihrer Arbeiten zu diesem Thema einige Beispiele hierfür an: Aufstampfen oder Schlagen auf ein eingeschlafenes Glied, Kratzen bei Juckreiz, Nägelbeißen in Stresssituationen, Schlagen an den Kopf beim Erkennen eigener Fehler und Zufügen eines stärkeren Schmerzes zur Schmerzbekämpfung (vgl. BERNARD-OPITZ 1988, 21). Es kommt allerdings darauf an, wie man selbstverletzendes Verhalten definiert, so dass die angeführten Beispiele nicht von jedem als autoaggressive Handlungen anerkannt werden. Es wird jedoch deutlich, dass es auch Selbstverletzungsverhalten gibt, das nicht „krankhaft" und somit auch nicht behandlungsbedürftig ist.

Im Folgenden soll es um auffälliges autoaggressives Verhalten gehen, das negative Folgen vor allem für den Betroffenen, aber auch für seine Bezugspersonen bedeutet. Aus diesem Grund wird zuerst eine Begriffsbestimmung vorgenommen.

 

4.2.1 Definition

Zum Themengebiet der Autoaggressionen bzw. des selbstverletzenden Verhaltens existieren viele ähnliche Definitionen, die sich lediglich unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die wohl älteste Definition lieferten TATE und BAROFF 1966: "Selbstverletzendes Verhalten impliziert weder einen Zerstörungsversuch noch unterstellt es Aggression. Der Begriff beschreibt einfach ein Verhalten, das eine physische Verletzung des eigenen Körpers produziert." (ROHMANN/ ELBING 1998, 129 nach JOHNSON/ REA 1986, nach >TATE/ BAROFF 1966).

Während BREZOVSKY 1985 beschrieb, dass "Selbstverletzendes Verhalten [...] ein beobachtbares Verhalten [ist], das häufig wiederholt auftritt, stereotypen Charakter haben kann und bei dem ein Individuum Reize gegen den eigenen Körper setzt, deren Ziel oder Wirkung die physische Verletzung ist." (BREZOVSKY 1985, 3), erklärten ROHMANN und HARTMANN 1988, dass Autoaggressionen auch automatisiert ablaufen können. Das Individuum hat in diesem Fall keine Möglichkeit, das Verhalten abzustellen, da dieses nicht absichtlich durchgeführt wird. Noch im selben Jahr veröffentlichten sie ihre Definition von Selbstverletzungsverhalten, die lautet:

Da in den bisher dargestellten Definitionsversuchen kaum Bezug zu Ursache oder Funktion des auffälligen Verhaltens hergestellt wurde, formulierte ELBING 1992 eine Definition, in der er darauf hinweist, dass selbstverletzendes Verhalten durch innere und durch äußere Faktoren ausgelöst werden kann. Dementsprechend haben beide Formen unterschiedliche Funktionen:

An dieser Stelle soll zusätzlich eine Definition von MÜHL et al. angeführt werden, die sich speziell auf den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung bezieht.

Die aktuellste und repräsentativste Definition des selbstverletzenden Verhaltens liefern ROHMANN und ELBING . Sie formulieren

und fassen damit die Thesen der anderen angeführten Definitionsversuche zusammen.

Diese letzte Definition soll die Grundlage für die in dieser Arbeit verwendeten Begriffe Autoaggression und selbstverletzendes Verhalten darstellen.

 

4.2.2 Häufigkeit

Nahezu alle Autoren, die sich mit der Thematik Autoaggression beschäftigen, weisen eindeutig darauf hin, dass keine repräsentativen Zahlen für die Häufigkeit selbstverletzender Verhaltensweisen existieren. Deshalb soll an dieser Stelle auf die Nennung von Zahlen vollkommen verzichtet werden. Es existieren jedoch einige Fakten bezüglich der Auftretenswahrscheinlichkeit, die zu einer ungefähren Vorstellung beitragen können.

Die Personengruppe, die am häufigsten von selbstverletzendem Verhalten betroffen ist, ist die der Menschen mit geistiger Behinderung. Während kaum ein nichtbehinderter Mensch ab dem Vorschulalter Autoaggressionen in der beschriebenen Form zeigt, findet man bei Menschen mit geistiger Behinderung in allen Altersstufen häufig schwere und stark stereotyp ablaufende Formen des selbstverletzenden Verhaltens. Besonders betroffen sind hierbei Menschen mit geistiger Behinderung, die in Institutionen, speziell in Großeinrichtungen, leben. Dieses Phänomen lässt sich z.B. durch das Krankheitsbild des psychischen Hospitalismus erklären, der eine psychische Schädigung aufgrund fehlender affektiver Zuwendung bedeutet (vgl. PSCHYREMBEL 1994, 661). Er tritt vorwiegend bei Säuglingen und Kleinkindern oder bei Langzeitpatienten in Krankenhäusern oder Heimen auf und äußert sich in psychomotorischer und somatischer Retardierung, erhöhter Mortalität, Kontaktstörungen, Angst, Apathie, erhöhter Infektanfälligkeit und Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität, Stereotypien und Autoaggressionen.

Abgesehen von Personen mit psychiatrischen Störungen sind Männer eher von der Autoaggression betroffen als Frauen.

ROHMANN und ELBING berichten außerdem von einer umgekehrten Beziehung des Ausmaßes der Selbstverletzung zum Intelligenzniveau des Individuums (vgl. ROHMANN/ ELBING 1998, 139). Diese These muss jedoch hinterfragt werden, wenn man die oftmals starke Tendenz zur Selbstbeschädigung bei autistischen Menschen betrachtet, die nicht über ein dementsprechend niedriges Intelligenzniveau zu verfügen scheinen.

Eine letzte interessante Beobachtung machten WEWETZA et al. in ihrer Untersuchung des "Symptomkomplexes Selbstverletzung bei einer kinder- und jugendpsychiatrischen stationären Inanspruchnahmepopulation". Sie stellten fest, dass "[...] Kinder mit hyperkinetischem Syndrom extrem selten durch selbstverletzendes Verhalten auffällig wurden [...]" (WEWETZA/ FRIESE/ WARNKE 1997, 103) und leiteten daraus die Schlussfolgerung ab, dass selbstverletzendes Verhalten keine reine Impulskontrollstörung darstellen kann.

 

4.2.3 Formen der Autoaggression

Formen der Autoaggression differenzierte FACION bereits 1984. Da diese Einteilung sehr übersichtlich und einfach ist, wird sie auch heute noch oft zur Beschreibung selbstverletzenden Verhaltens angewandt.

Die erste Form ist die leichte Autoaggression. Hierzu zählen "[...] selbstbeschädigende Verhaltensweisen mit geringer Intensität, ohne sichtbare Verletzungen, die häufig mit einem erkennbaren Situationsbezug stattfinden, [...]" (ROHMANN/ ELBING 1998, 135 nach ROHMANN/ FACION 1984).

Die Form der mittleren Autoaggression umfasst "[...] selbstbeschädigende und selbstverletzende Verhaltensweisen [...] mit gesteigerter Intensität und Regelmäßigkeit, so dass Verletzungen wie Narben, Verhornung usw. sichtbar sind, wobei dieses Verhalten bereits teilweise automatisiert auftreten kann." (ROHMANN/ ELBING 1998, 136 nach ROHMANN/ FACION 1984).

Darüber hinaus existiert die Form der schweren Autoaggression. "Darunter verstehen wir selbstverletzende und selbst zerstörerische Verhaltensweisen, d.h. dass Verletzungen auftreten können, die lebensbedrohlich sind [...]. Die Intensität des Verhaltens ist massiv, das Verhalten findet ohne erkennbaren Grund statt und ist stark automatisiert [...]." (ROHMANN/ ELBING 1998, 136 nach ROHMANN/ FACION 1984).

Während in die erste Kategorie vorwiegend die Verhaltensweisen fallen, die in Kapitel 4.2 angeführt wurden, wird man bei Menschen, die selbstverletzende Verhaltensweisen der zweiten oder dritten Einstufung zeigen, eher von einer Verhaltensauffälligkeit sprechen, die pädagogischer und/ oder therapeutischer Intervention bedarf.

Eine Einteilung des selbstverletzenden Verhaltens kann aber auch anhand anderer Bedingungen, wie z.B. betroffener Körperregionen und der verwendeten Instrumente vorgenommen werden. HÄNSLI beschreibt, dass alle Körperregionen verletzt werden können und dass sowohl eigene Körperteile als auch Gegenstände als Mittel zur Verletzung Gebrauch finden (vgl. HÄNSLI 1996, 21 f.).

 

4.2.4 Ursachen, Bedeutung und Funktion autoaggressiven Verhaltens

In diesem Kapitel werden die unterschiedlichen Erklärungsansätze zur Entstehung und Funktion des selbstverletzenden Verhaltens kurz dargestellt. Bis heute existiert keine einheitliche Ansicht darüber, wie das Verhalten zustande kommt, jedoch wird in der letzten Zeit von vielen Seiten auf die Wichtigkeit des kommunikativen Aspektes hingewiesen. Welche Entstehungstheorie letztlich zutrifft, erkennt man am Erfolg verschiedener Interventionen, die in Kapitel 4.2.5 dargestellt werden.

 

a) Annahme der homöostatischen Funktion des selbstverletzenden Verhaltens (Selbststimulationshypothese)

Die Selbststimulationshypothese begründet sich auf der Annahme, dass das psychische Gleichgewicht (die psychische Homöostase) eines Individuums nur durch die Aufrechterhaltung eines bestimmten Maßes an taktiler, kinästhetischer und vestibulärer Anregung hergestellt werden kann. Dementsprechend wird selbstverletzendes Verhalten als Folge einer Reizdeprivation oder Reizüberflutung angesehen, die das psychische Gleichgewicht des Individuums stört, was dieses zu bekämpfen versucht. Ursache der Autoaggressionen kann die Unterbringung des Individuums in einer äußerst reizarmen oder reizüberfluteten Umgebung oder eine Störung in der Reizverarbeitung des Menschen sein. Das selbstverletzende Verhalten dient demnach entweder der Aufrechterhaltung bzw. Herstellung eines bestimmten Aktivierungsniveaus bei Reizmangel oder der Schaffung eines Gefühls von Sicherheit in einer als chaotisch empfundenen Umwelt (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 31 ff.).

Diese Hypothese konnte durch tierexperimentelle Untersuchungen belegt werden und ist in nahezu allen Veröffentlichungen zum Thema Autoaggression nachzulesen.

 

b) Lerntheoretischer Erklärungsansatz

Die lerntheoretischen Annahmen zum selbstverletzenden Verhalten berufen sich vorwiegend auf den Vorgang der operanten Konditionierung.

In Zusammenhang mit Selbstverletzungsverhalten werden zwei Thesen angeführt: die "Zuwendungshypothese" und die "Vermeidungshypothese" (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 34 ff.).

Die Zuwendungshypothese besagt, dass die Aufmerksamkeit und Zuwendung, die ein Mensch aufgrund seines selbstverletzenden Verhaltens erhält, als positive Verstärkung für das Verhalten gilt. Das geht soweit, dass MÜHL et al. beobachten konnten, dass in einzelnen Fällen Autoaggressionen nur in solchen Situationen gezeigt wurden, in denen Bezugspersonen anwesend waren, in isolierten Situationen dagegen nicht (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 36). Eine Löschung des auffälligen Verhaltens ist somit nur durch einen konsequenten Verzicht auf positive soziale Zuwendung als Folge des selbstverletzenden Verhaltens möglich.

Die Vermeidungshypothese wird dadurch begründet, dass Individuen, die selbstverletzendes Verhalten zeigen, sehr häufig unmittelbar von belastenden Situationen und Aufgaben befreit werden. Das gestaltet sich so, dass der Lehrer oder Betreuer eine gerade gestellte (anspruchsvolle) Aufgabe wieder zurücknimmt, um das auffällige Verhalten des Schülers zu stoppen oder zu vermindern. Dadurch findet jedoch eine negative Verstärkung des Verhaltens statt, welche bewirkt, dass der Betroffene nach einer bestimmten Zeit immer dann selbstverletzendes Verhalten zeigt, wenn er einer unangenehmen Situation entgehen möchte. Eine Löschung des Verhaltens ist nur durch die Vermeidung der Verstärkung möglich (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 34 ff.).

Auch wenn dieser Erklärungsansatz ebenfalls sehr weit verbreitet und anerkannt ist, kann er nur bedingt angewendet werden. Er sagt nichts über die Entstehung von selbstverletzendem Verhalten aus, so dass angenommen werden muss, dass die primäre Ursache eine andere ist. Unbestritten ist dahingegen, dass Verstärkungsprozesse eine bedeutende Rolle in der weiteren Entwicklung der Autoaggressionen spielen.

 

c) Entwicklungspsychologischer Erklärungsansatz

Der entwicklungspsychologische Erklärungsansatz bezieht sich auf das Modell der psychomotorischen Entwicklung nach Piaget. An diesem Modell, das im Folgenden kurz dargestellt wird, kann man ablesen, dass innerhalb der normalen Entwicklung eines jeden Säuglings bzw. Kleinkinds autoaggressive Handlungen vorkommen. Diese Handlungen können nach MÜHL et al. "[...] als adaptives Verhalten im Rahmen von Reifungsprozessen [...]" (MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 33) verstanden werden. Für Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung, von denen häufig gesagt wird, dass sie auf einer frühen Entwicklungsstufe stehengeblieben sind (vgl. SPECK 1997, 98 f. und BREZOVSKY 1985, 26), bedeutet das, dass ihre Autoaggressionen entwicklungsgemäße Reaktionen sind. In der folgenden Tabelle werden die Stadien der psychomotorischen Entwicklung innerhalb der sensumotorischen Entwicklungsstufe (ca. 0. - 2. Lebensjahr) nach Piaget und die dazu erstellte psychologische Gebrauchstheorie nach HAISCH dargestellt und man kann erkennen, dass Menschen, die Autoaggressionen zeigen, auf dem Entwicklungsstand des 2., 3. oder 4. Stadiums stehen geblieben sein können.

Tabelle 2: Stadien der psychomotorischen Entwicklung nach Piaget und ihre psychologische Bedeutung

Stadien der psychomotorischen Entwicklung

psychologische Gebrauchstheorie

1. Stadium: Betätigung und Übung der Reflexe

vegetatives Leben und erbkoordinierte Bewegung

2. Stadium: die ersten erworbenen Anpassungsverhalten und die primäre Zirkulärreaktion

erregungsgeleitete Selbstbewegung

3. Stadium: die sekundären Zirkulärreaktionen und die Vorgehensweisen, die dazu dienen, interessante Erscheinungen andauern zu lassen

effektgeleitete Betätigung

4. Stadium: Koordination der sekundären Verhaltensschemata und ihre Anwendung auf neue Situationen

gewohnheitsgeleitete Betätigung

5. Stadium: tertiäre Zirkulärreaktion und die Entdeckung neuer Mittel durch aktives Ausprobieren

darstellungs- und modellgeleitete Betätigung

6. Stadium: Erfindung neuer Mittel durch geistige Kombinationen

mitteilungs- und erfahrungsgeleitetes Handeln

(KLAUß 1995, 130 f. nach HAISCH 1994)

Anhand dieser Übersicht erkennt man, dass in den Stadien 2, 3 und 4 die Möglichkeit für selbstverletzendes Verhalten besteht. Im Stadium der erregungsgeleiteten Selbstbewegung z.B. geht es nur um Bewegungen, nicht aber um deren Wirkungen auf die unmittelbare Umwelt. KLAUß führt aus, dass ein Individuum auf dieser Entwicklungsstufe, das keine alternativen Bewegungsmöglichkeiten kennt, auf Stereotypien zurückgreifen wird (vgl. KLAUß 1995, 130). Dem Wunsch nach Variabilität der Bewegungen können diese Menschen lediglich durch eine Steigerung der Intensität des Verhaltens nachkommen, wodurch sich automatisch nach gewisser Zeit selbstverletzendes Verhalten entwickelt. Das Stadium der effektgeleiteten Bewegung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch zwischen angenehmen und unangenehmen Effekten unterscheidet und versucht, angenehme Gefühle zu reproduzieren. Sind seine Möglichkeiten dabei so stark eingeschränkt, dass er nur auf Bewegungsmuster zurückgreifen kann, entwickelt sich selbstverletzendes Verhalten ebenso wie in Stadium 2 durch Steigerung der Intensität seiner Bewegungen. Im Stadium der gewohnheitsgeleiteten Betätigung erlernt das Individuum in seiner vertrauten Umgebung ein Kooperationsverhalten und erkennt, dass die Beeinflussung der Bezugspersonen möglich und nötig ist, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Nach KLAUß bedeutet dieses für Menschen mit geistiger Behinderung, dass sie sowohl ihre eigene Hilfsbedürftigkeit als auch die Beeinflussbarkeit ihrer Bezugspersonen begreifen. Sie erkennen, dass sie auffallen müssen, um von den Bezugspersonen, die sie oftmals mit vielen anderen teilen müssen, ausreichend Zuwendung zu erhalten. "Selbstverletzendes Verhalten kann demnach als Versuch verstanden werden, in einer abhängigen Lebenssituation andere Menschen durch demonstrierte Hilfebedürftigkeit im eigenen Sinne zu beeinflussen." (KLAUß 1995, 131).

In der Tat ist dieser Erklärungsansatz nachvollziehbar, jedoch muss beachtet werden, dass die Einordnung eines Menschen mit geistiger Behinderung in dieses Schema sehr umstritten ist. Der Vergleich mit einem Kind der selben Entwicklungsstufe kann in der Regel aufgrund der wesentlich höheren Lebenserfahrung des Menschen mit geistiger Behinderung keine allgemeingültigen Schlussfolgerungen zulassen.

 

d) Biologischer Erklärungsansatz

Es existieren viele unterschiedliche Ansätze der Erklärung autoaggressiven Verhaltens durch biologische bzw. organische Faktoren.

Das gehäufte Vorkommen selbstverletzenden Verhaltens bei bestimmten Störungsformen wie z.B. dem Lesch-Nyhan-Syndrom und dem Cornelia-de-Lange-Syndrom wird häufig dazu herangezogen, biologische Faktoren für selbstverletzendes Verhalten verantwortlich zu machen. Das Lesch-Nyhan-Syndrom (auch: Hyperurikämiesyndrom) ist eine X-chromosomal-rezessiv erbliche Störung des Harnsäurestoffwechsels (Häufigkeit: 1:100.000) und tritt entsprechend nur bei Männern auf. Die Symptomatik setzt sich vor allem aus Muskelhypotonie, spastischer Diplegie, Choreo-athetose, geistiger Behinderung, Fremdaggressionen und Selbstbeschädigung (vor allem Lippen- und Fingerkuppenbeißen) zusammen (vgl. PSCHYREMBEL 1994, 868). Das Cornelia-de-Lange-Syndrom (Häufigkeit 1: 10.000 bis 1: 30.000) ist eine embryonale Entwicklungsstörung mit unklarer, wahrscheinlich multifaktorieller Ätiologie. Sie ist gekennzeichnet durch Symptome wie charakteristische Gesichtsdysmorphie, Mikrobrachycephalie, Hypertrichose, Handdysplasie mit Klinodaktylie und proximal verschobenem Daumenansatz, Minderwuchs, schwere psychomotorische Retardierung, muskuläre Hypertonie, selbstverletzendes Verhalten und durch Infektanfälligkeit herabgesetzte Lebenserwartung (vgl. PSCHYREMBEL 1994, 846).

Das gehäufte Auftreten von autoaggressivem Verhalten bei Menschen mit den beschriebenen Störungsbildern kann einerseits durch bisher noch unklare organische Vorgänge erklärt werden. Andererseits kann man es auch auf die bei beiden Syndromen vorkommenden Entwicklungsrückstände zurückführen und somit z.B. dem entwicklungspsychologischen Erklärungsansatz zuordnen. Beide Möglichkeiten sind offen, da der genaue Auslöser für das selbstverletzende Verhalten bei diesen Syndromen bisher nicht nachgewiesen werden konnte.

Es existiert im biologischen Bereich außerdem die Theorie der Dysfunktion des körpereigenen Opiatsystems. Dementsprechend werden im Körper zu viele Opiate gebildet, die bestimmte Neurotransmitter hemmen und somit die Schmerzempfindung des Individuums herabsetzen. Das Individuum hat jedoch einen angeborenen Drang danach, seinen Körper zu spüren, so dass nur durch Autoaggressionen in gesteigerter Intensität ein Gefühl des Körpers entstehen kann. Selbstverletzendes Verhalten wird demnach als sehr angenehm empfunden, was einige Forscher zu der Annahme verleitet, sie versetzen den Menschen in einen suchtähnlichen Zustand. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass der Opiat-Status im Körper ständig variiert, so dass das Individuum, welches automatisch vom endogenen Opiat-Überschuss physiologisch abhängig wird, selbstverletzendes Verhalten einsetzt, um einen Abfall des Opiatspiegels zu verhindern (Suchtverhalten). Bei der dadurch ausgelösten erneuten Freisetzung von Opiaten werden starke euphorische Gefühle produziert, die die Abhängigkeit weiter verstärken (vgl. KING 1993, 98).

Es existieren bezüglich der Opiat-Hypothesen Untersuchungen, die bei einigen Personen einen Überfluss oder eine Schwankung des endogenen Opiatspiegels feststellen konnten. Allerdings kann dieses nicht auf alle Menschen übertragen werden, die selbstverletzendes Verhalten zeigen, sondern betrifft lediglich eine kleine Gruppe.

 

e) Psychodynamischer Erklärungsansatz

Die Vertreter der psychodynamischen Sichtweise formulierten mehrere verschiedene Thesen, über die sie selbstverletzendes Verhalten erklären.

Am häufigsten findet man die These, dass Autoaggression eigentlich eine Aggression ist, die gegen den eigenen Körper gerichtet wird, weil eine Ausrichtung nach außen hin nicht erfolgen kann oder darf. Eine weitere Erklärung hierzu wird allerdings nicht geliefert.

Die zweite Hypothese basiert darauf, dass für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen die Ausbildung des Libido und Destrudo und die Mischung dieser beiden Triebe grundlegend ist. Um diese Triebe aber entwickeln und verbinden zu können, muss das Individuum die Fähigkeit zur Herstellung von Objektbeziehungen erlangt haben. Diese werden in der Regel zuerst zu den primären Bezugspersonen aufgebaut. Ist die Fähigkeit der Herstellung von Objektbeziehungen gestört, so kann die Durchmischung der Triebbedürfnisse Libido und Destrudo nicht stattfinden und somit können Aggressionen (die vom Destrudo gesteuert sind) am eigenen Körper ausgelassen werden, da der Libido diesem nicht widerspricht.

Des weiteren existiert die Behauptung, selbstverletzendes Verhalten sei eine Form der Selbstbestrafung, mit der das Individuum seine Schuldeinsicht deutlich macht und somit den Druck seines Über-Ichs abbaut (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 40). BREZOVSKY weist jedoch darauf hin, dass diese These in vielen Untersuchungen nicht bestätigt werden konnte (vgl. BREZOVSKY 1985, 19)

Darüber hinaus wird die These diskutiert, selbstverletzendes Verhalten sei auf eine unzureichend differenzierte Ich-Identität zurückzuführen. Dadurch kann ein Individuum seinen eigenen Körper nicht als diesen erkennen, sondern lediglich als Objekt der näheren Umgebung, an der Aggressionen ausgelassen werden können (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 40).

Zu dieser Theorie drängt sich die Frage nach dem Schmerzempfinden der betroffenen Personen auf. Denn wenn sie ihren Körper als Objekt der Umwelt ansehen, werden sie bei der Ausübung autoaggressiver Handlungen Schmerzen empfinden und in irgendeiner Art und Weise darauf reagieren. Ebenso wird nicht erklärt, warum die Individuen nicht gleichzeitig auch versuchen, ihre Aggressionen gegenüber fremden Personen zu äußern, die in das nähere Umfeld gelangen.

MÜHL et al. führen als Kritik an den Thesen des psychodynamischen Erklärungsansatzes an, dass nahezu alle zugrunde liegenden Untersuchungen an Menschen ohne Behinderung durchgeführt wurden, obwohl der größte Teil der Betroffenen zum Personenkreis mit geistiger Behinderung zählt ( MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 40).

 

f) Annahme der kommunikativen Funktion des selbstverletzenden Verhaltens

Dieser Erklärungsansatz findet in den letzten Jahren immer mehr Beachtung in der Autoaggressionsforschung. Es liegt die Vermutung nahe, dass selbstverletzendes Verhalten (ebenso wie auch aggressives) eine Form der nonverbalen Kommunikation darstellt. Dies lässt sich damit begründen, dass auffallend viele Menschen mit geistiger Behinderung, die keine oder nur sehr geringe Möglichkeiten des verbalen Ausdrucks haben, selbstverletzendes Verhalten zeigen, um ihre individuellen Bedürfnisse mitzuteilen. Dementsprechend werden zusehends neue Kommunikationssysteme für diesen Personenkreis entwickelt, die häufig eine Reduktion des autoaggressiven Verhaltens bewirken können.

 

g) Materialistischer Erklärungsansatz

Nach MÜHL et al. ist die Grundlage für diese These die Aneignungstheorie, in der festgelegt wird,

Besteht eine Störung dieser Aneignung der Umwelt durch innere Faktoren wie z.B. Krankheit, Bewegungsbeeinträchtigungen oder äußere Faktoren wie z.B. Nahrungsmangel, Isolation in Sondereinrichtungen oder Mangel an Zuwendung, so kann es zu weiterführenden Störungen der Austauschprozesse und zu kompensierenden Verhaltensweisen, wie z.B. Autoaggressionen kommen.

Die Annahme, dass selbstverletzendes Verhalten ein Ersatz für entgangene Zuwendung und fehlende soziale Kontakte ist, klingt nachvollziehbar und bietet für den Therapeuten und Pädagogen einen guten Ansatzpunkt für die Behandlung dieser Verhaltensauffälligkeit. Es kann jedoch keine Aussage darüber gemacht werden, wann bzw. warum gerade Autoaggression als kompensierende Verhaltensweise und nicht z.B. anderweitige Stereotypien oder Tics in Erscheinung treten.

 

h) Ökologischer und lebensgeschichtlicher Erklärungsansatz

Diese beiden Erklärungsansätze werden unter einer Überschrift zusammengefasst, da beide dadurch gekennzeichnet sind, dass die Umgebung und das soziale Umfeld eines Menschen als eigentliche Ursache für selbstverletzendes Verhalten angesehen werden.

Als ökologische Ursachen für autoaggressives Verhalten werden Umgebungsvariablen wie z.B. Geräuschkulisse, Personendichte und die vorangegangene Situation angesehen. Diese bewirken eine dementsprechend hohe oder reduzierte Rate und/ oder Intensität von autoaggressiven Handlungen. An dieser Stelle kann ein Bezug zur Überforderungstheorie der Selbststimulationshypothese hergestellt werden, da auf eine Reizüberflutung von außen eine Selbstverletzungsreaktion erfolgt. Als Querverweis muss hier noch angeführt werden, dass diese Theorie auch für die Erklärung der Entstehung des autistischen Syndroms herangezogen wird, bei der ebenfalls angenommen wird, dass die symptomatischen Autoaggressionen infolge einer Reizüberflutung auftreten.

WEWETZA et al. fassen in ihrem Artikel außerdem lebensgeschichtliche Erfahrungen zusammen, die eine Prädisposition für selbstverletzendes Verhalten darstellen können. Ein in der Kindheit erlebter Verlust eines Elternteils, chronische Krankheit, sexueller Missbrauch und impulsives bis gewalttätiges Verhalten der Familienmitglieder bzw. ein in der Adoleszenz erfahrender Verlust einer nahestehenden Person, Probleme mit Gleichaltrigen, Körperschema- und Impulskontrollstörungen machen das Auftreten autoaggressiver Verhaltensweisen wahrscheinlicher (vgl. WEWETZA/ FRIESE/ WARNKE 1997, 98 f.).

Diese Faktoren und Umweltbedingungen tragen sicherlich einen Teil zur Entstehung bzw. Aufrechterhaltung von selbstverletzendem Verhalten bei, können jedoch nicht als Ursache für das Auftreten anerkannt werden, da sie zu unspezifisch sind und auch sehr viele Menschen betreffen, die kein autoaggressives Verhalten an den Tag legen.

 

4.2.5 Behandlungsmöglichkeiten

Ebenso wie in der Hyperaktivitäts- und Aggressionsforschung wurden viele verschiedene Therapiemöglichkeiten entwickelt, die in diesem Kapitel kurz beschrieben werden.

 

a) Medikation

Die Medikation ist neben der Fixierung die am häufigsten angewendete Intervention bei selbstverletzendem Verhalten. Es wird berichtet, dass in den USA ca. 50 % aller institutionalisierten Menschen mit geistiger Behinderung Psychopharmaka erhalten und dass für Deutschland ungefähr dasselbe gilt. Dabei ist zu beobachten, dass ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Dosierung und dem Grad der Mobilität sowie zwischen der Medikamentendosis und der Intensität der Autoaggressionen besteht (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 83 f.).

Bei der Medikation selbstverletzenden Verhaltens besteht jedoch immer die Gefahr, einem Individuum, welches sich durch Autoaggressionen mitzuteilen versucht, die einzige Möglichkeit der Kommunikation zu nehmen und sich somit den Weg verbaut, jemals die Ursache des auffälligen Verhaltens herauszufinden. Dieses gilt jedoch nicht ausschließlich für die medikamentöse Intervention, sondern ebenso für andere Verfahren, die alleine die Bekämpfung des selbstverletzenden Verhaltens anstreben.

 

b) Fixierung, Schutzkleidung

Die physische Einschränkung eines Individuums ist die häufigste Interventionsmaßnahme bei Menschen mit Selbstverletzungsverhalten. Hierzu zählen Verfahren, wie z.B. Fixierung am Bett oder Stuhl mit Hilfe von Riemen, Schutzkleidungen, die die Bewegungsfähigkeit deutlich einschränken und selbstverletzendes Verhalten unmöglich machen, mechanische Vorrichtungen zum Verhindern bestimmter Bewegungen und das zeitweilige Festhalten durch einen Betreuer. Man muss hierbei jedoch unterscheiden, ob die Fixierung als Krisenintervention im Notfall oder als prophylaktische Maßnahme eingesetzt wird. Die Folgen einer Langzeit-Fixierung eines Menschen können Sehnenverkürzungen, Muskelatrophie, Demineralisierung der Knochen, aber auch ein verringerter sozialer Kontakt zu Betreuern und Bezugspersonen, sowie ein Abbau der pädagogischen Förderung sein. Ein Individuum rückt durch die ständige Fixierung aus dem Mittelpunkt des Geschehens heraus und läuft Gefahr, vernachlässigt und depriviert zu werden (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 85 ff .).

Es muss jedoch auch beachtet werden, dass eine situationsabhängige körperliche Fixierung vom Betroffenen als positive Verstärkung durch Zuwendung empfunden werden und somit das selbstverletzende Verhalten festigen kann. Unter diesen Gesichtspunkten bleibt zu überlegen, ob eine Fixierung als Langzeitmaßnahme empfehlenswert und sinnvoll ist.

 

c) Strafverfahren

Der Einsatz von Strafverfahren begründet sich auf der Annahme, dass Individuen ein bestimmtes auffälliges Verhalten nicht mehr zeigen, wenn sie unmittelbar nach der Äußerung dieses Verhaltens bestraft werden. Diese Bestrafung kann einerseits bedeuten, dass dem Individuum ein negativer Reiz zugefügt wird oder andererseits, dass ihm ein positiver Reiz entzogen wird. Einige Beispiele für Strafverfahren werden im Folgenden exemplarisch dargestellt:

 

d) Unterbrechung

Die Unterbrechung stellt keine eigenständige Behandlungsmethode, sondern einen Bestandteil vieler anderer Strategien dar. Sie sieht ein Unterbrechen des selbstverletzenden Verhaltens mit Hilfe z.B. des Festhaltens bestimmter Körperteile, des lauten Händeklatschens oder eines verbalen Ausrufs durch den Betreuer vor. Direkt nach der Unterbrechung sollten alternative Verhaltensweisen angeboten und geübt werden (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 99).

 

e) Stimulusanreicherung

Die Stimulusanreicherung basiert auf der Selbststimulationshypothese. Demnach muss eine Umgestaltung der unmittelbaren Umwelt des Betroffenen erfolgen, so dass dieser ein natürliches Angebot von Reizen erhält. MÜHL et al. weisen darauf hin, dass diese Methode als Zusatz zu anderen Behandlungsformen angesehen werden kann, alleine angewendet selbstverletzendes Verhalten aber nicht abbauen kann (vgl. MÜHL/ NEUKÄTER/ SCHULZ 1996, 99 f .) .

 

f) Handlungserweiternde Verfahren

Um den langfristigen Abbau von Selbstverletzungsverhalten zu erreichen, müssen die Betroffenen alternative Verhaltensweisen erlernen, um nicht auf die Äußerung von Bedürfnissen verzichten zu müssen. Die im folgenden vorgestellten handlungserweiternden Verfahren sollten ebenfalls ergänzend zu den bisher dargestellten eingesetzt werden, um den Abbau selbstverletzenden Verhaltens für den Betroffenen möglichst sinnvoll vorzunehmen.

 

4.2.6 Autoaggressives Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung

Wie in Kapitel 4.2.2 bereits erläutert, sind Menschen mit geistiger Behinderung die größte Risikogruppe für selbstverletzendes Verhalten, so dass an dieser Stelle noch einmal speziell auf diesen Personenkreis eingegangen wird.

Bei Menschen mit geistiger Behinderung treten vorwiegend Autoaggressionen mit stereotypem Charakter auf. Im Vergleich zu Selbstverletzungen nichtbehinderter Personen haben sie häufig eine wesentlich primitivere Ausprägung. Das bedeutet konkret, dass die selbstverletzenden Handlungen sehr einfach sind und keine besonderen Anforderungen an die Feinmotorik der ausführenden Person stellen. Des weiteren kann verzeichnet werden, dass die Handlungen sehr häufig hintereinander auftreten und meist unmittelbar durch die gegenwärtige Situation ausgelöst werden. Im Verhaltensrepertoire von Menschen mit geistiger Behinderung haben Autoaggressionen einen hohen Stellenwert, so dass aus dem Mangel an Alternativen heraus sehr oft auf sie zurückgegriffen werden muss.

Die Problematik stellt hohe Anforderungen an die Betreuer, so dass Menschen, die sehr starke Autoaggressionen an den Tag legen, häufig wegen Überforderung der Bezugspersonen und zum Zweck des Selbstschutzes in Heime oder Kliniken eingewiesen werden.

 

4.2.7 (Sonder-) Pädagogische Schlussfolgerungen

Im Unterricht an der Schule für Geistigbehinderte sind Schüler mit Autoaggressionen keine Seltenheit. Trotzdem kommt es sehr häufig zu einer Hilflosigkeit der Lehrer im Umgang mit diesen Kindern, wenn der Abbau dieser Verhaltensweisen nicht gelingt.

Für die Unterrichtssituation stellen diese Kinder eine Art „Störfaktoren" dar, die die Aufmerksamkeit der Pädagogen und Mitschüler durch ihr auffälliges Verhalten auf sich ziehen. Diese Störungen stellen jedoch lange nicht das Hauptproblem vieler Lehrer dar, sondern der konkrete Umgang mit ihrem besonderen Verhalten. An erster Stelle muss der Schutz des Schülers vor Verletzungen stehen, was sich sehr oft nur mit Hilfe von Fixierung gestalten lässt. Diese Fixierung behindert den Schüler allerdings an der aktiven Teilnahme am Unterrichtsgeschehen und weist ihm weiterhin eine Sonderrolle unter den Mitschülern zu. Wird das Kind medikamentös behandelt, so kann dieses auch zu einer Behinderung des Lernerfolgs führen, da sich die Arzneimittel meistens nicht ausschließlich auf die Selbstverletzung auswirken, sondern auf das gesamte Verhalten (siehe Kapitel 4.2.5).

Schüler mit selbstverletzendem Verhalten erhalten meistens die größte Aufmerksamkeit eines Lehrers und bezwecken dieses manchmal auch. Das kann aber Nachahmung durch Mitschüler nach sich ziehen, die ebenfalls vermehrte Zuwendung durch den Lehrer erhalten möchten. Das wiederum deutet der autoaggressive Schüler als Angriff auf seinen besonderen Status und hat nach ROHMANN und ELBING lediglich die Möglichkeit, darauf mit Fremdaggressionen zu reagieren ( ROHMANN/ ELBING 1998, 149 f.). Auch auf diese Situation muss der Pädagoge selbstverständlich eingerichtet sein. Anhand dieser Fülle von Besonderheiten und Bedingungen für den Unterricht ist leicht zu erkennen, dass die oftmals deutliche Hilflosigkeit der Lehrer eine natürliche Reaktion ist. Für den Umgang mit solchen Schülern sind spezielle Fortbildungsmaßnahmen notwendig, um das selbstverletzende Verhalten abzubauen und die Mitschüler in diesem Prozess nicht zu vernachlässigen.

 

4.2.8 Spezielle pädagogische Interventionsmaßnahmen bei autoaggressiven Schülern

Da man in der vorhandenen Literatur keine pädagogischen Programme für den Umgang mit autoaggressiven Schülern finden kann, sollen an dieser Stelle eigene Strategien entwickelt werden. Zu diesem Zweck werden wieder, mit Hilfe der in den Erklärungsansätzen angeführten Ursachen für selbstverletzendes Verhalten, Ziele formuliert, die insgesamt zu einer Reduzierung des Verhaltens führen können.

Im Anschluss an diese Ziele soll nun überlegt werden, auf welchem Weg diese erreicht werden können.

Um das Reizangebot innerhalb des Unterrichts auf die Schüler abstimmen zu können, ist es notwendig, vorher eine genaue Beobachtung vorzunehmen. Da nicht jeder Schüler (und auch nicht jeder autoaggressive Schüler) die gleichen Bedürfnisse hat, kann sich dieses als sehr schwierig erweisen. In diesem Fall besteht jedoch die Möglichkeit, wenigstens in den Phasen der Einzelarbeit/ Einzelförderung auf jeden Schüler speziell einzugehen. Die Anforderungen an einen Schüler (speziell an Schüler, die auf Überforderungen mit selbstverletzendem Verhalten reagieren) sollten entsprechend nur ganz behutsam gesteigert werden. Plötzlich steil ansteigende Erwartungen, können diesen verunsichern und somit zu einer autoaggressiven Reaktion verleiten.

Um einen abwechslungsreichen Schultag zu gewährleisten, sollten neben den Lernphasen auch Spiel- und Entspannungseineiten durchgeführt werden. Finden diese Einheiten regelmäßig statt, haben alle Schüler die Möglichkeit, sich darauf einzulassen und sich daran zu gewöhnen.

Betrachtet man das zweite Ziel, die Vermeidung der Verstärkung näher, so tauchen erste Probleme auf. Einerseits möchte man verhindern, dass durch das autoaggressive Verhalten eine Herabsetzung der schulischen Anforderungen erfolgt, andererseits möchte man aber auch die Überforderung des Schülers verhindern. Um diesem Dilemma zu entkommen, ist es dringend erforderlich, sich über die Fähigkeiten des betroffenen Schülers genau bewusst zu sein. Nur so kann man eine Überforderung ausschließen und die Verstärkung des Verhaltens verhindern.

Ist man sich sicher, dass der Schüler nicht überfordert ist, sollte das Verhalten - wenn möglich - ignoriert werden. Ebenso wie bei aggressiven Schülern gibt es aber Situationen, in denen ein Ignorieren die Gefährdung des betroffenen Schülers bedeutet, so dass eine Zuwendung unumgänglich ist. In diesem Fall sollte die Zuwendung so erfolgen, dass der Schüler trotzdem erkennt, dass sein Verhalten nicht sinnvoll ist. Eine Bestrafung durch aversive Reize oder längerfristige Fixierung sollte jedoch auf jeden Fall ausgeschlossen werden. Weiterhin sollte eine konstruktive Arbeit mit vorhandenem (stereotypen) selbstverletzendem Verhalten (Umlenken) angestrebt werden. Hierzu könnte man zum Beispiel die Hand eines Schülers ergreifen, wenn dieser Anzeichen gibt, sich im nächsten Moment mit dieser zu schlagen und die Hand in einer Streichel-Bewegung über die Wange führen. Der Schüler lernt dadurch, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, sein Gesicht zu berühren und dass (auch) dieses durchaus angenehme Gefühle bereiten kann. Eine andere Möglichkeit ist, die Hand des Schülers so zu führen, dass er eine „Klatsch-Bewegung" ausführt. Es soll letztlich erreicht werden, dass sich der Schüler das autoaggressive Verhalten „abgewöhnt" oder dass das Verhalten in weniger schädigende Handlungen umgewandelt wird. Nur eine langfristige und kontinuierliche Arbeit mit dem Schüler in dieser Richtung kann eine Verhaltensänderung bewirken.

Das vierte Ziel ist die Förderung der Körperwahrnehmung. Dieser Aspekt bildet ohnehin den ersten Schwerpunkt der Richtlinien für den Unterricht an der Schule für Geistigbehinderte. Es wird deshalb vorgeschlagen, Übungen durchzuführen, die unterschiedliche Raumlagen, den Gleichgewichtssinn, Empfindungen der Körperoberfläche und die Wahrnehmung und Einordnung von Sinnesreizen berücksichtigen und das Kennen lernen der einzelnen Körperteile und ihrer Funktionen fördern (vgl. KULTUSMINISTER DES LANDES NRW 1980, 25 ff.). Auf diesem Weg können Körperschemastörungen abgebaut werden, außerdem begreifen die Schüler, dass der Körper, dem gegenüber sie Autoaggressionen äußern, zu ihnen selbst gehört. Darüber hinaus lernen sie, welche Funktionen die einzelnen Körperteile (z.B. die Hand) abgesehen von autoaggressiven Handlungen haben.

Auch durch die Herstellung von sozialen Kontakten innerhalb der Schulklasse oder klassenübergreifend kann eine Verhaltensbesserung erreicht werden. Einerseits werden die Schüler von sich selbst abgelenkt und andererseits werden dadurch positive Signale wie z.B. Verständnis und Angenommensein vermittelt. Die Förderung von Freundschaften kann mit der Einführung von Gruppen- und Partnerarbeiten beginnen, wobei darauf geachtet wird, dass die Gruppen möglichst konstant bleiben. Ebenfalls muss berücksichtigt werden, dass Schüler mit schwerer geistiger Behinderung von einer Gruppe nicht als Last empfunden werden dürfen. Dementsprechend sollten auch Aufgaben gewählt werden, die diese Schüler gut oder besser lösen können als andere. Auch durch klassenübergreifende Patenschaften können z.B. soziale Erfahrungen herbeigeführt werden. Diese Interventionen sind sicherlich nicht leicht durchführbar und bedürfen stets genauer Vorbereitung.

Eine weitere Möglichkeit des Abbaus von selbstverletzenden Verhaltensweisen ist die Einführung von Unterbrechungssignalen. In der Regel eignen sich laute und überraschende Geräusche, wie zum Beispiel ein lautes Händeklatschen oder ein bestimmender Ausruf des Lehrers gut, um das autoaggressive Verhalten zu unterbrechen. Wird dadurch tatsächlich eine Unterbrechung erreicht, so muss sofort an dieser Stelle das Durchführen alternativer Handlungen erfolgen, wie z.B. das Streicheln des Gesichts. Diese Intervention soll so weit führen, dass später ein Unterbrechungssignal, welches der Schüler mittlerweile kennt und welches normalerweise nicht mehr so laut sein muss ausreicht, um den Schüler zu einer alternativen Aktion zu bewegen. Es gibt allerdings auch Schüler, bei denen diese Maßnahme nicht gelingt, weil sie sich z.B. durch das laute Geräusch bedroht fühlen und darauf mit stärkeren Autoaggressionen reagieren. Ebenso gibt es Schüler, die zwar zu Beginn auf das Unterbrechungssignal reagieren, sich aber dann langsam daran gewöhnen und dieses ignorieren lernen. In diesem Fall ist es angebracht, mehrere unterschiedliche Signale auszuprobieren, bevor die Intervention gegebenenfalls aufgegeben wird.

Bei Kindern mit eingeschränkten kommunikativen Fähigkeiten ist die Kommunikationsförderung ein wichtiger Bestandteil der therapeutischen, aber auch der pädagogischen Intervention bei jeglichen Verhaltensauffälligkeiten. Dementsprechend ist dieses auch bei autoaggressivem Verhalten angemessen. Ein Beispiel für die Kommunikationsförderung bei Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung ist die Basale Kommunikation® nach MALL. Innerhalb dieser Intervention wird versucht, sich ganz auf die Signale einzulassen, die ein Mensch mit geistiger Behinderung aussendet, sei es über seinen Atemrhythmus, seine Bewegungen oder seine Lautäußerungen. Zum Beispiel über Nachahmung, Spiegeln oder verändertes Wiedergeben kann damit gearbeitet - und somit mit dem Betroffenen kommuniziert werden. Die Ziele der Basalen Kommunikation® sollen dementsprechend lauten:

Die Basale Kommunikation® stellt allerdings nur ein Beispiel für die Möglichkeiten der Kommunikationsförderung dar. Alternativ hierzu kann man eigene Strategien entwickeln, anhand derer Kommunikation mit einzelnen Schülern ermöglicht werden kann. Hierzu eignet sich eventuell eine Kommunikation über Fotokarten, auf denen bestimmte Gefühle dargestellt sind. Diese Fotokarten wurden bereits in Kapitel 4.1.8 zum Aufbau der Empathiefähigkeit bei aggressiven Schülern vorgestellt. Anhand dieser Karten, die vorher besprochen wurden, erhält der betroffene Schüler die Möglichkeit, die eigene Gefühlslage darzustellen, so dass die Mitschüler und der Pädagoge darauf reagieren können. Über diesen Weg kann später versucht werden, die Kommunikation langsam weiter auszubauen.