1. Der Personenkreis der Menschen mit

geistiger Behinderung

Um eine Arbeit über den Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung und Verhaltensauffälligkeiten zu schreiben, ist es vorab notwendig, eine Charakterisierung dieser Gruppe vorzunehmen.

In den letzten Jahren wurden zahlreiche unterschiedliche Definitionen veröffentlicht, die im Folgenden zu einer neuen, dieser Arbeit zugrunde liegenden Definition zusammengefasst werden.

Menschen mit geistiger Behinderung können vor allem durch eine Beeinträchtigung ihrer seelischen Gesamtentwicklung charakterisiert werden. Das hat in der Regel eine Störung einzelner psychischer Funktionen wie z.B. der kognitiven, sprachlichen, sozialen, emotionalen und motorischen Fähigkeiten zur Folge. Aufgrund der massiven Lernbeeinträchtigungen ist schon im Kindesalter eine sonderpädagogische Förderung erforderlich und weiterhin verursachen die unterdurchschnittliche Intelligenz und die mangelnde soziale Anpassungsfähigkeit der Personen darüber hinaus oft die Notwendigkeit einer lebenslangen sozialen und pädagogischen Hilfestellung.

 

1.1 Ursachen der geistigen Behinderung

Die genaue Ursache der geistigen Behinderung kann nur bei ca. 50 % der Betroffenen festgestellt werden, bei weiteren 50 % kann man keine genetische oder organische Störung nachweisen (vgl. MÜHL 1994, 37). Die Formen hirnorganischer Störungen, die eine geistige Behinderung auslösen können, sind im Folgenden dargestellt. Es wird davon ausgegangen, dass ca. 15 –20 % der geistigen Behinderungen durch chromosomale Störungen, ca. 7-10 % durch metabolische Störungen, ca. 20 % durch exogene Schädigungen und 50 % durch unbekannte Faktoren oder Krankheiten hervorgerufen werden.

Zusätzlich zu hirnorganischen Störungen werden aber auch soziokulturelle Bedingungen für die Entstehung bzw. die Ausprägung der Schwere einer geistigen Behinderung verantwortlich gemacht. BACH zählt hierzu ungünstige materielle, kulturelle und sozialpsychische Zustände sowie ungünstige Lernbedingungen auf. Mangelhafte Wohnverhältnisse, fehlende bzw. unzureichende Schul- oder Fördereinrichtungen, Ablehnung und Stigmatisierung durch den persönlichen Umkreis und unzureichend individualisierte Lernangebote können demnach an der Entstehung einer geistigen Behinderung beteiligt sein oder den Ausprägungsgrad erheblich verstärken (vgl. BACH 1981 nach MÜHL 1994, 37).

 

Übersicht 1: Ätiologie der geistigen Behinderung

 

Chromosomal verursachte geistige Behinderung

Metabolisch verursachte geistige Behinderung

Andere und ätiologisch unklare geistige Behinderung

Exogene Formen

  • Pränatale Schädigungen
    • Infektionen (z.B. Virusinfektionen, Syphilis, Rötelnembryopathie)
    • Chemische Einflüsse wie z.B. Medikamente (z.B. Contergan-Schädigung) und Alkohol (Alkoholembryofetopathie)
    • Strahlen
    • misslungene mechanische Schwangerschaftsunterbrechung
    • Störungen der Schwangerschaft (z.B. Dysfunktion der Gebärmutter, mütterliche Erkrankungen, Mangelernährung)
    • Frühgeburtlichkeit
    • Blutgruppenunverträglichkeit (Rhesus-Faktor-Unverträglichkeit beim Zweitgeborenen)
  • Postnatale Schädigungen
    • entzündliche Erkrankungen des ZNS (z.B. Meningitis, Encephalitis, Meningocephalitis)
    • chemische und physikalische Einwirkungen (z.B. Sauerstoffmangel, Störungen des Salz-Wasser-Haushaltes, schwere Verbrennungen, Unterkühlung)
    • Schädel-Hirn-Trauma
    • Hirntumore

 

1.2 Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung

Es ist mittlerweile weithin bekannt, dass unter Menschen mit geistiger Behinderung eine deutlich höhere Rate an Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen vorliegt als in der übrigen Bevölkerung. DOSEN beschreibt, dass 30 – 50 % aller Menschen mit geistiger Behinderung gleichzeitig unter einer psychischen Störung leiden, so dass das Risiko, eine psychische Störung zu bekommen, 3 bis 5 mal höher liegt als bei Menschen ohne geistige Einschränkungen (vgl. DOSEN 1997, 23). Aus diesem Grund besteht ein dringender Handlungsbedarf bei Bezugspersonen, Betreuern und Pädagogen, den einzelnen Ursachen auf die Spur zu kommen und somit die weitere Verstärkung der Verhaltensauffälligkeiten und das Entstehen neuer Auffälligkeiten zu verhindern. Aus seiner Bewertung dieser Situation leitet LOTZ Ursachen ab, die die relativ hohe Prävalenz psychischer Störungen bei diesem Personenkreis begründen können. An erster Stelle steht eine Umwelt, die den Bedürfnissen des Einzelnen nicht gerecht werden kann, wie es in einigen Anstalten der Fall ist. Dazu kommt das oftmals gestörte Selbstwertgefühl von Menschen mit geistiger Behinderung, welches häufig aus den eingeschränkten Möglichkeiten zur Selbsthilfe und –versorgung resultiert. Weiterhin kann eine gestörte Kommunikationsfähigkeit dazu führen, dass psychische Störungen ausgelöst werden, da dem betroffenen Menschen keine oder nur sehr begrenzte Mittel zur Verfügung stehen, um eigene Bedürfnisse zu äußern oder einfach mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Des weiteren können auch Situationen der Über- oder der Unterforderung die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten begünstigen, ebenso wie ein Mangel an sozialer Unterstützung von anderen Personen oder Institutionen (vgl. LOTZ 1991).

Da man nicht global alle Verhaltensstörungen gleichermaßen behandeln kann, nahm THEUNISSEN 1995 eine Klassifizierung auffälligen Verhaltens in 6 Gruppen vor:

1. Auffälligkeiten im Sozialverhalten

2. Auffälligkeiten im psychischen Bereich

3. Auffälligkeiten im Arbeits- und Leistungsbereich

4. Auffälligkeiten gegenüber Sachobjekten

5. Auffälligkeiten im somatisch-physischen Bereich

6. Autoaggressives Verhalten

(vgl. THEUNISSEN 1995, 67)

Die in dieser Arbeit behandelten Verhaltensauffälligkeiten können ebenfalls in dieses Schema eingeordnet werden: die Hyperaktivität kann sich in Auffälligkeiten der ersten und dritten Gruppe äußern, die Aggression kann ebenfalls der ersten und auch der vierten Klasse zugeordnet werden und autoaggressives Verhalten bildet die sechste Klasse. Auf die einzelnen Verhaltensauffälligkeiten wird in den Kapiteln 3 und 4 näher eingegangen.